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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Gewalt antun, langsam entfernte sich der Zug. Die Beamten sahen ihm respektvoll nach. Dann kehrten sie mit jener gewissen Verlegenheit, wie man sie bei Leichenbegräbnissen beobachtet, in ihre Amtslokale zurück. In diesem Augenblick war die fast tausendjährige Monarchie erst wirklich zu Ende. Ich wußte, es war ein anderes Österreich, eine andere Welt, in die ich zurückkehrte. Sobald der Zug in der Ferne verschwunden war, hieß man uns aus den blanken und sauberen schweizerischen Waggons in die österreichischen umsteigen. Und man mußte die österreichischen nur betreten haben, um schon im voraus zu wissen, was diesem Lande geschehen war. Die Schaffner, die einem die Plätze anwiesen, schlichen hager, verhungert und halb zerlumpt herum; zerrissen und abgetragen schlotterten ihnen die Uniformen um die eingesunkenen Schultern. An den Fensterscheiben waren die Lederriemen zum Aufziehen und Niederziehen abgeschnitten, denn jedes Stück Leder bedeutete eine Kostbarkeit. Auch in den Sitzen hatten räuberische Messer oder Bajonette gewütet; ganze Stücke der Polsterung waren barbarisch weggetrennt von irgendeinem Skrupellosen, der seine Schuhe flicken lassen wollte und sich Leder holte, wo er es fand. Ebenso waren die Aschenschalen um des bißchen Nickels und Kupfers willen gestohlen. Von außen fuhr mit dem spätherbstlichen Wind durch die zerschlagenen Fenster Ruß und Schlacke der elenden Braunkohle herein, mit der man jetzt die Lokomotiven heizte; sie schwärzte Boden und Wände, aber ihr Stank linderte wenigstens den scharfen Geruch von Jodoform, der daran erinnerte, wie viele Kranke und Verwundete man während des Krieges in diesen Skeletten von Waggons befördert. Immerhin, daß der Zug überhaupt vorwärtskam, bedeutete ein Wunder, allerdings ein langwieriges; jedesmal, wenn die ungeölten Räder weniger grell kreischten, fürchteten wir schon, daß der abgearbeiteten Maschine der Atem versagte. Für eine Strecke, die man sonst in einer Stunde Fahrt bewältigte, brauchte man vier oder fünf, und mit der Dämmerung fiel man ins völlige Dunkel. Die elektrischen Birnen waren zerschlagen oder gestohlen, wer etwas suchte, mußte mit Zündhölzern sich vorwärtstasten, und man fror nur deshalb nicht, weil man schon von Anfang an zu sechst oder acht dicht aneinandergepreßt saß. Aber bereits in der ersten Station drängten noch neue Menschen herein, immer mehr, und alle schon ermüdet durch das stundenlange Warten. Die Gänge pfropften sich voll, selbst auf den Trittbrettern hockten Leute in der halbwinterlichen Nacht, und außerdem hielt jeder noch sein Gepäck und sein Lebensmittelpaket ängstlich an sich gepreßt; keiner wagte im Dunkel auch nur für eine Minute etwas aus der Hand zu geben. Mitten aus dem Frieden war ich zurückgefahren in das schon beendet vermeinte Grauen des Krieges. Vor Innsbruck röchelte plötzlich die Lokomotive und konnte eine kleine 211
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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