Seite - 211 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Gewalt antun, langsam entfernte sich der Zug. Die Beamten sahen ihm
respektvoll nach. Dann kehrten sie mit jener gewissen Verlegenheit, wie man
sie bei Leichenbegräbnissen beobachtet, in ihre Amtslokale zurück. In diesem
Augenblick war die fast tausendjährige Monarchie erst wirklich zu Ende. Ich
wußte, es war ein anderes Österreich, eine andere Welt, in die ich
zurückkehrte.
Sobald der Zug in der Ferne verschwunden war, hieß man uns aus den
blanken und sauberen schweizerischen Waggons in die österreichischen
umsteigen. Und man mußte die österreichischen nur betreten haben, um schon
im voraus zu wissen, was diesem Lande geschehen war. Die Schaffner, die
einem die Plätze anwiesen, schlichen hager, verhungert und halb zerlumpt
herum; zerrissen und abgetragen schlotterten ihnen die Uniformen um die
eingesunkenen Schultern. An den Fensterscheiben waren die Lederriemen
zum Aufziehen und Niederziehen abgeschnitten, denn jedes Stück Leder
bedeutete eine Kostbarkeit. Auch in den Sitzen hatten räuberische Messer
oder Bajonette gewütet; ganze Stücke der Polsterung waren barbarisch
weggetrennt von irgendeinem Skrupellosen, der seine Schuhe flicken lassen
wollte und sich Leder holte, wo er es fand. Ebenso waren die Aschenschalen
um des bißchen Nickels und Kupfers willen gestohlen. Von außen fuhr mit
dem spätherbstlichen Wind durch die zerschlagenen Fenster Ruß und
Schlacke der elenden Braunkohle herein, mit der man jetzt die Lokomotiven
heizte; sie schwärzte Boden und Wände, aber ihr Stank linderte wenigstens
den scharfen Geruch von Jodoform, der daran erinnerte, wie viele Kranke und
Verwundete man während des Krieges in diesen Skeletten von Waggons
befördert. Immerhin, daß der Zug überhaupt vorwärtskam, bedeutete ein
Wunder, allerdings ein langwieriges; jedesmal, wenn die ungeölten Räder
weniger grell kreischten, fürchteten wir schon, daß der abgearbeiteten
Maschine der Atem versagte. Für eine Strecke, die man sonst in einer Stunde
Fahrt bewältigte, brauchte man vier oder fünf, und mit der Dämmerung fiel
man ins völlige Dunkel. Die elektrischen Birnen waren zerschlagen oder
gestohlen, wer etwas suchte, mußte mit Zündhölzern sich vorwärtstasten, und
man fror nur deshalb nicht, weil man schon von Anfang an zu sechst oder
acht dicht aneinandergepreßt saß. Aber bereits in der ersten Station drängten
noch neue Menschen herein, immer mehr, und alle schon ermüdet durch das
stundenlange Warten. Die Gänge pfropften sich voll, selbst auf den
Trittbrettern hockten Leute in der halbwinterlichen Nacht, und außerdem hielt
jeder noch sein Gepäck und sein Lebensmittelpaket ängstlich an sich gepreßt;
keiner wagte im Dunkel auch nur für eine Minute etwas aus der Hand zu
geben. Mitten aus dem Frieden war ich zurückgefahren in das schon beendet
vermeinte Grauen des Krieges.
Vor Innsbruck röchelte plötzlich die Lokomotive und konnte eine kleine
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286