Page - 213 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 213 -
Text of the Page - 213 -
verschiedenen Grundrechte waren sichtbare Zeugen seiner immerhin
stattlichen Vergangenheit.
Daß dieses Schlößchen – es wirkte durch eine lange Front pompös, hatte
aber nicht mehr als neun Räume, weil es nicht in die Tiefe ging – eine antike
Kuriosität war, entzückte später unsere Gäste sehr; zur Zeit aber erwies sich
seine historische Herkunft als Verhängnis. Wir fanden unser Heim in einem
fast unbewohnbaren Zustand. Der Regen tropfte munter in die Zimmer, nach
jedem Schnee schwammen die Gänge, und eine richtige Reparatur des Daches
war unmöglich, denn die Zimmerleute hatten kein Holz für die Sparren, die
Spengler kein Blei für die Rinnen; mühsam wurden mit Dachpappe die
schlimmsten Lücken verklebt, und wenn neuer Schnee fiel, half nichts, als
selbst auf das Dach zu klettern, um rechtzeitig die Last wegzuschaufeln. Das
Telephon rebellierte, denn für den Leitungsdraht hatte man Eisen statt Kupfer
genommen; jede Kleinigkeit mußte, da niemand lieferte, von uns selbst den
Berg heraufgeschleppt werden. Aber das Schlimmste war die Kälte, denn
Kohle gab es im weitesten Umkreis keine, das Holz aus dem Garten war zu
frisch und zischte wie eine Schlange, statt zu heizen, und spuckte krachend,
statt zu brennen. In der Not halfen wir uns mit Torf, der wenigstens einen
Schein von Wärme gab, aber drei Monate lang habe ich meine Arbeiten fast
nur im Bett mit blaugefrorenen Fingern geschrieben, die ich nach jeder
beendeten Seite zur Wärmung immer wieder unter die Decke zog. Aber selbst
diese unwirtliche Behausung mußte noch verteidigt werden, denn zur
allgemeinen Not an Nahrungsmitteln und Heizung kam in diesem
Katastrophenjahr noch die Wohnungsnot. Vier Jahre war in Österreich nicht
gebaut worden, viele Häuser verfallen, und nun strömte plötzlich obdachlos
die unzählbare Masse der entlassenen Soldaten und Kriegsgefangenen zurück,
so daß zwangsläufig in jedem verfügbaren Zimmer eine Familie
untergebracht werden sollte. Viermal kamen Kommissionen, aber wir hatten
freiwillig längst schon zwei Räume abgegeben, und die Unwirtlichkeit und
die Kälte unseres Hauses, die uns erst so feindlich gewesen, bewährten sich
nun; niemand mehr wollte die hundert Stufen heraufklettern, um dann hier zu
frieren.
Jeder Gang in die Stadt hinab war damals erschütterndes Erlebnis; zum
erstenmal sah ich einer Hungersnot in die gelben und gefährlichen Augen.
Das Brot krümelte sich schwarz und schmeckte nach Pech und Leim, Kaffee
war ein Absud von gebrannter Gerste, Bier ein gelbes Wasser, Schokolade
gefärbter Sand, die Kartoffeln erfroren; die meisten zogen sich, um den
Geschmack von Fleisch nicht ganz zu vergessen, Kaninchen auf, in unserem
Garten schoß ein junger Bursche Eichhörnchen als Sonntagsspeise ab, und
wohlgenährte Hunde oder Katzen kamen nur selten von längeren
Spaziergängen zurück. Was an Stoffen angeboten wurde, war in Wahrheit
213
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286