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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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verschiedenen Grundrechte waren sichtbare Zeugen seiner immerhin stattlichen Vergangenheit. Daß dieses Schlößchen – es wirkte durch eine lange Front pompös, hatte aber nicht mehr als neun Räume, weil es nicht in die Tiefe ging – eine antike Kuriosität war, entzückte später unsere Gäste sehr; zur Zeit aber erwies sich seine historische Herkunft als Verhängnis. Wir fanden unser Heim in einem fast unbewohnbaren Zustand. Der Regen tropfte munter in die Zimmer, nach jedem Schnee schwammen die Gänge, und eine richtige Reparatur des Daches war unmöglich, denn die Zimmerleute hatten kein Holz für die Sparren, die Spengler kein Blei für die Rinnen; mühsam wurden mit Dachpappe die schlimmsten Lücken verklebt, und wenn neuer Schnee fiel, half nichts, als selbst auf das Dach zu klettern, um rechtzeitig die Last wegzuschaufeln. Das Telephon rebellierte, denn für den Leitungsdraht hatte man Eisen statt Kupfer genommen; jede Kleinigkeit mußte, da niemand lieferte, von uns selbst den Berg heraufgeschleppt werden. Aber das Schlimmste war die Kälte, denn Kohle gab es im weitesten Umkreis keine, das Holz aus dem Garten war zu frisch und zischte wie eine Schlange, statt zu heizen, und spuckte krachend, statt zu brennen. In der Not halfen wir uns mit Torf, der wenigstens einen Schein von Wärme gab, aber drei Monate lang habe ich meine Arbeiten fast nur im Bett mit blaugefrorenen Fingern geschrieben, die ich nach jeder beendeten Seite zur Wärmung immer wieder unter die Decke zog. Aber selbst diese unwirtliche Behausung mußte noch verteidigt werden, denn zur allgemeinen Not an Nahrungsmitteln und Heizung kam in diesem Katastrophenjahr noch die Wohnungsnot. Vier Jahre war in Österreich nicht gebaut worden, viele Häuser verfallen, und nun strömte plötzlich obdachlos die unzählbare Masse der entlassenen Soldaten und Kriegsgefangenen zurück, so daß zwangsläufig in jedem verfügbaren Zimmer eine Familie untergebracht werden sollte. Viermal kamen Kommissionen, aber wir hatten freiwillig längst schon zwei Räume abgegeben, und die Unwirtlichkeit und die Kälte unseres Hauses, die uns erst so feindlich gewesen, bewährten sich nun; niemand mehr wollte die hundert Stufen heraufklettern, um dann hier zu frieren. Jeder Gang in die Stadt hinab war damals erschütterndes Erlebnis; zum erstenmal sah ich einer Hungersnot in die gelben und gefährlichen Augen. Das Brot krümelte sich schwarz und schmeckte nach Pech und Leim, Kaffee war ein Absud von gebrannter Gerste, Bier ein gelbes Wasser, Schokolade gefärbter Sand, die Kartoffeln erfroren; die meisten zogen sich, um den Geschmack von Fleisch nicht ganz zu vergessen, Kaninchen auf, in unserem Garten schoß ein junger Bursche Eichhörnchen als Sonntagsspeise ab, und wohlgenährte Hunde oder Katzen kamen nur selten von längeren Spaziergängen zurück. Was an Stoffen angeboten wurde, war in Wahrheit 213
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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