Page - 231 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Überhitztheit unerträglich war, dieses tägliche nervenzerreißende
Ausgerecktwerden auf dem Streckseile der Inflation, und daß die ganze
kriegsmüde Nation sich eigentlich nur nach Ordnung, Ruhe, nach ein bißchen
Sicherheit und Bürgerlichkeit sehnte. Und im geheimen haßte sie die
Republik, nicht deshalb, weil sie diese wilde Freiheit etwa unterdrückt hätte,
sondern im Gegenteil, weil sie die Zügel zu locker in Händen hielt.
Wer diese apokalyptischen Monate, diese Jahre miterlebt, selbst abgestoßen
und erbittert, der fühlte: hier mußte ein Rückschlag kommen, eine
grauenhafte Reaktion. Und lächelnd warteten im Hintergrund dieselben, die
das deutsche Volk in dieses Chaos getrieben, mit der Uhr in der Hand: »Je
schlimmer im Land, desto besser für uns.« Sie wußten, daß ihre Stunde
kommen würde. Um Ludendorff mehr noch als um den damals noch
machtlosen Hitler kristallisierte sich schon ganz offenkundig die
Gegenrevolution; die Offiziere, denen man die Epauletten abgerissen,
organisierten sich zu Geheimbünden, die Kleinbürger; die sich um ihre
Ersparnisse betrogen sahen, rückten leise zusammen und stellten sich im
voraus jeder Parole bereit, sofern sie nur Ordnung versprach. Nichts war so
verhängnisvoll für die deutsche Republik wie ihr idealistischer Versuch, dem
Volke und selbst ihren Feinden Freiheit zu lassen. Denn das deutsche Volk,
ein Volk der Ordnung, wußte nichts mit seiner Freiheit anzufangen und
blickte schon voll Ungeduld aus nach jenen, die sie ihm nehmen sollten.
Der Tag, da die deutsche Inflation beendet war (1923), hätte ein
Wendepunkt in der Geschichte werden können. Als mit einem Glockenschlag
je eine Billion emporgeschwindelter Mark gegen eine einzige neue Mark
eingelöst wurde, war eine Norm gegeben. Tatsächlich flutete der trübe Gischt
mit all seinem Schmutz und Schlamm bald zurück, die Bars, die
Schnapsbuden verschwanden, die Verhältnisse normalisierten sich, jeder
konnte jetzt klar rechnen, was er gewonnen, was er verloren. Die meisten, die
riesige Masse hatte verloren. Aber verantwortlich gemacht wurden nicht die
den Krieg verschuldet, sondern die opfermütig – wenn auch unbedankt – die
Last der Neuordnung auf sich genommen. Nichts hat das deutsche Volk – dies
muß immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so haßwütig,
so hitlerreif gemacht wie die Inflation. Denn der Krieg, so mörderisch er
gewesen, er hatte immerhin Stunden des Jubels geschenkt mit Glockenläuten
und Siegesfanfaren. Und als unheilbar militärische Nation fühlte sich
Deutschland durch die zeitweiligen Siege in seinem Stolze gesteigert,
während es durch die Inflation sich einzig als beschmutzt, betrogen und
erniedrigt empfand; eine ganze Generation hat der deutschen Republik diese
Jahre nicht vergessen und nicht verziehen und lieber seine Schlächter
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286