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und Bach und Beethoven, Goethe und Balzac. So wäre es eine lächerliche
Pose, wollte ich behaupten, daß der unerwartete äußere Erfolg mich
gleichgültig oder gar innerlich ablehnend gefunden hätte.
Aber ich bin ehrlich, wenn ich sage, daß ich mich des Erfolges nur freute,
solange er sich auf meine Bücher und meinen literarischen Namen bezog, daß
er mir aber eher lästig wurde, wenn sich Neugier auf meine physische Person
übertrug. Von frühester Jugend an war nichts in mir stärker gewesen als der
instinktive Wunsch, frei und unabhängig zu bleiben. Und ich spürte, daß bei
jedem Menschen von seiner persönlichen Freiheit viel des Besten durch
photographische Publizität gehemmt und verunstaltet wird. Außerdem drohte,
was ich aus Neigung begonnen, die Form eines Berufs und sogar eines
Betriebs anzunehmen. Jede Post brachte Stöße von Briefen, Einladungen,
Aufforderungen, Anfragen, die beantwortet werden wollten, und wenn ich
einmal einen Monat wegreiste, dann gingen nachher immer zwei oder drei
Tage verloren, um die aufgehäufte Masse wegzuschaufeln und den ›Betrieb‹
wieder in Ordnung zu bringen. Ohne es zu wollen, war ich durch die
Marktgängigkeit meiner Bücher in eine Art Geschäft geraten, das Ordnung,
Übersicht, Pünktlichkeit und Geschicklichkeit erforderte, um richtig erledigt
zu werden – all dies sehr respektable Tugenden, die leider meiner Natur
keineswegs entsprechen und das reine, unbefangene Sinnen und Träumen auf
das gefährlichste zu stören drohten. Je mehr man darum von mir Teilnahme
wollte, Vorlesungen, Erscheinen bei repräsentativen Anlässen, desto mehr zog
ich mich zurück, und diese fast pathologische Scheu, mit meiner Person für
meinen Namen einstehen zu sollen, habe ich nie überwinden können. Mich
treibt es noch heute vollkommen instinktiv, in einem Saale, einem Konzert,
einer Theateraufführung mich in die letzte, unauffälligste Reihe zu setzen,
und nichts ist mir unerträglicher, als auf einem Podium oder sonst exponierten
Platz mein Gesicht zur Schau zu stellen; Anonymität der Existenz in jeder
Form ist mir Bedürfnis. Schon als Knabe waren mir jene Schriftsteller und
Künstler der früheren Generation immer unverständlich, die durch
Samtjacken und wallendes Haar, durch niederhängende Stirnlocken wie etwa
meine verehrten Freunde Arthur Schnitzler und Hermann Bahr, oder durch
auffallende Barttracht und extravagante Kleidung sich schon auf der Straße
erkenntlich machen wollten. Ich bin überzeugt, daß jedes Bekanntwerden der
physischen Erscheinung einen Menschen unbewußt verleitet, nach Werfels
Wort als ›Spiegelmensch‹ seines eigenen Ich zu leben, in jeder Geste einen
gewissen Stil anzunehmen, und mit dieser Veränderung der äußeren Haltung
geht gewöhnlich Herzlichkeit, Freiheit und Unbekümmertheit der inneren
Natur verloren. Wenn ich heute noch einmal anfangen könnte, würde ich
darum trachten, diese beiden Glückszustände, den des literarischen Erfolgs
und den der persönlichen Anonymität gleichsam verdoppelt zu genießen,
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286