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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Sprache, aber ein Brief, der mir nicht durch die Post zugekommen war, ein Brief, den irgend jemand bei einer dieser Umarmungen oder Umdrängungen mir geschickt in die Tasche geschoben haben mußte. Es war ein Brief ohne Unterschrift, ein sehr kluger, ein menschlicher Brief, nicht zwar der eines ›Weißen‹, aber doch voll Erbitterung gegen die immer steigende Einschränkung der Freiheit in den letzten Jahren. »Glauben Sie nicht alles«, schrieb mir dieser Unbekannte, »was man Ihnen sagt. Vergessen Sie nicht, bei allem, was man Ihnen zeigt, daß man Ihnen auch vieles nicht zeigt. Erinnern Sie sich, daß die Menschen, die mit Ihnen sprechen, meistens nicht das sagen, was sie Ihnen sagen wollen, sondern nur, was sie Ihnen sagen dürfen. Wir sind alle überwacht und Sie selbst nicht minder. Ihre Dolmetscherin meldet jedes Wort. Ihr Telephon ist abgehört, jeder Schritt kontrolliert. « Er gab mir eine Reihe von Beispielen und Einzelheiten, die zu überprüfen ich nicht imstande war. Aber ich verbrannte diesen Brief gemäß seiner Weisung – »Zerreißen Sie ihn nicht bloß, denn man würde die einzelnen Stücke aus Ihrem Papierkorb holen und zusammensetzen« – und begann zum erstenmal alles zu überdenken. War es nicht wirklich Tatsache, daß ich inmitten dieser ehrlichen Herzlichkeit, dieser wunderbaren Kameradschaftlichkeit eigentlich nicht ein einziges Mal Gelegenheit gehabt hatte unbefangen mit jemandem unter vier Augen zu sprechen? Meine Unkenntnis der Sprache hatte mich verhindert, mit den Leuten aus dem Volke rechte Fühlung zu nehmen. Und dann: ein wie winziges Stück des unübersehbaren Reiches hatte ich in diesen vierzehn Tagen gesehen! Wenn ich ehrlich gegen mich und gegen andere sein wollte, mußte ich zugeben, daß mein Eindruck, so erregend, so beschwingend er in manchen Einzelheiten gewesen, doch keine objektive Gültigkeit haben konnte. So kam es, daß, während fast alle anderen europäischen Schriftsteller, die von Rußland zurückkamen, sofort ein Buch veröffentlichten mit begeistertem Ja oder erbittertem Nein, ich nichts als ein paar Aufsätze schrieb. Und ich habe mit dieser Zurückhaltung gut getan, denn schon nach drei Monaten war vieles anders, als ich es gesehen, und nach einem Jahr wäre dank der rapiden Wandlungen jedes Wort schon von den Tatsachen Lügen gestraft worden. Immerhin habe ich das Strömende unserer Zeit in Rußland so stark gefühlt wie selten in meinem Leben. Meine Koffer waren bei meiner Abreise von Moskau ziemlich leer. Was ich weggeben konnte, hatte ich verteilt und meinerseits nur zwei Ikone mitgenommen, die dann lange Zeit mein Zimmer schmückten. Aber das Wertvollste, was ich mir heimbrachte, war die Freundschaft mit Maxim Gorkij, dem ich in Moskau zum ersten Male persönlich begegnet bin. Ich traf 248
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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