Seite - 248 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Sprache, aber ein Brief, der mir nicht durch die Post zugekommen war, ein
Brief, den irgend jemand bei einer dieser Umarmungen oder Umdrängungen
mir geschickt in die Tasche geschoben haben mußte.
Es war ein Brief ohne Unterschrift, ein sehr kluger, ein menschlicher Brief,
nicht zwar der eines ›Weißen‹, aber doch voll Erbitterung gegen die immer
steigende Einschränkung der Freiheit in den letzten Jahren. »Glauben Sie
nicht alles«, schrieb mir dieser Unbekannte, »was man Ihnen sagt. Vergessen
Sie nicht, bei allem, was man Ihnen zeigt, daß man Ihnen auch vieles nicht
zeigt. Erinnern Sie sich, daß die Menschen, die mit Ihnen sprechen, meistens
nicht das sagen, was sie Ihnen sagen wollen, sondern nur, was sie Ihnen sagen
dürfen. Wir sind alle überwacht und Sie selbst nicht minder. Ihre
Dolmetscherin meldet jedes Wort. Ihr Telephon ist abgehört, jeder Schritt
kontrolliert. « Er gab mir eine Reihe von Beispielen und Einzelheiten, die zu
überprüfen ich nicht imstande war. Aber ich verbrannte diesen Brief gemäß
seiner Weisung – »Zerreißen Sie ihn nicht bloß, denn man würde die
einzelnen Stücke aus Ihrem Papierkorb holen und zusammensetzen« – und
begann zum erstenmal alles zu überdenken. War es nicht wirklich Tatsache,
daß ich inmitten dieser ehrlichen Herzlichkeit, dieser wunderbaren
Kameradschaftlichkeit eigentlich nicht ein einziges Mal Gelegenheit gehabt
hatte unbefangen mit jemandem unter vier Augen zu sprechen? Meine
Unkenntnis der Sprache hatte mich verhindert, mit den Leuten aus dem Volke
rechte Fühlung zu nehmen. Und dann: ein wie winziges Stück des
unübersehbaren Reiches hatte ich in diesen vierzehn Tagen gesehen! Wenn
ich ehrlich gegen mich und gegen andere sein wollte, mußte ich zugeben, daß
mein Eindruck, so erregend, so beschwingend er in manchen Einzelheiten
gewesen, doch keine objektive Gültigkeit haben konnte. So kam es, daß,
während fast alle anderen europäischen Schriftsteller, die von Rußland
zurückkamen, sofort ein Buch veröffentlichten mit begeistertem Ja oder
erbittertem Nein, ich nichts als ein paar Aufsätze schrieb. Und ich habe mit
dieser Zurückhaltung gut getan, denn schon nach drei Monaten war vieles
anders, als ich es gesehen, und nach einem Jahr wäre dank der rapiden
Wandlungen jedes Wort schon von den Tatsachen Lügen gestraft worden.
Immerhin habe ich das Strömende unserer Zeit in Rußland so stark gefühlt
wie selten in meinem Leben.
Meine Koffer waren bei meiner Abreise von Moskau ziemlich leer. Was ich
weggeben konnte, hatte ich verteilt und meinerseits nur zwei Ikone
mitgenommen, die dann lange Zeit mein Zimmer schmückten. Aber das
Wertvollste, was ich mir heimbrachte, war die Freundschaft mit Maxim
Gorkij, dem ich in Moskau zum ersten Male persönlich begegnet bin. Ich traf
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286