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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Handschrift an seinem großen Roman, beantwortete Hunderte von Fragen, mit denen sich aus seiner Heimat junge Schriftsteller und Arbeiter an ihn wandten; mit ihm beisammen zu sein hieß für mich Rußland erleben, nicht das bolschewistische, nicht das von einst und nicht das von heute, sondern des ewigen Volkes weite, starke und dunkle Seele. Innerlich war er in jenen Jahren noch nicht ganz entschieden. Als alter Revolutionär hatte er den Umsturz gewollt, war mit Lenin persönlich befreundet gewesen, aber er zögerte damals noch, sich ganz der Partei zu verschreiben, »Pope zu werden oder Papst«, wie er sagte, und doch drückte ihn das Gewissen, in jenen Jahren, wo jede Woche Entscheidung brachte, nicht mit den Seinen zu sein. Zufällig wurde ich in jenen Tagen Zeuge einer solchen, sehr charakteristischen, durchaus neu-russischen Szene, die mir seinen ganzen Zwiespalt enthüllte. Zum erstenmal war in Neapel ein russisches Kriegsschiff auf einer Übungsfahrt eingelaufen. Die jungen Matrosen, die nie in der Weltstadt gewesen, promenierten in ihren schmucken Uniformen durch die Via Toledo und konnten sich mit ihren großen, neugierigen Bauernaugen nicht sattsehen an all dem Neuen. Am nächsten Tag entschloß sich ein Trupp von ihnen, nach Sorrent hinüberzufahren, um ›ihren‹ Dichter zu besuchen. Sie sagten sich nicht an; in ihrer russischen Bruderschaftsidee war es ihnen ganz selbstverständlich, daß ›ihr‹ Dichter jederzeit für sie Zeit haben müsse. Plötzlich standen sie vor seinem Haus, und sie hatten richtig gefühlt: Gorkij ließ sie nicht warten und lud sie zu Gast. Aber – Gorkij erzählte es selbst lachend am nächsten Tage – diese jungen Leute, denen nichts höher stand als die ›Sache‹, gebärdeten sich zunächst recht streng zu ihm. »Wie wohnst du da«, sagten sie, kaum in die schöne behagliche Villa eingetreten. »Du lebst ja ganz wie ein Bourgeois. Und warum kommst du eigentlich nicht nach Rußland zurück?« Gorkij mußte ihnen alles ausführlich erklären, so gut er konnte. Aber im Grunde meinten es die braven Jungen auch nicht so streng. Sie hatten eben nur zeigen wollen, daß sie vor Ruhm keinen ›Respekt‹ hatten und jeden zuerst auf seine Gesinnung prüften. Unbefangen setzten sie sich hin, tranken Tee, plauderten, und zum Schluß umarmte ihn einer nach dem andern beim Abschied. Es war wunderbar, wie Gorkij die Szene erzählte, ganz verliebt in die lockere freie Art dieser neuen Generation und ohne im mindesten etwa durch ihre Burschikosität gekränkt zu sein. »Wie anders wir waren«, wiederholte er immer, »entweder geduckt oder voll Vehemenz, aber nie sicher unserer selbst.« Den ganzen Abend leuchteten seine Augen. Und als ich ihm sagte: »Ich glaube, am liebsten wären Sie mit ihnen heimgefahren«, stutzte er, sah mich scharf an. »Wieso wissen Sie das? Wirklich, ich habe bis zum letzten Augenblick noch überlegt, ob ich nicht alles stehen und liegen lassen sollte, die Bücher, die Papiere und die Arbeit, und mit solchen jungen Burschen vierzehn Tage auf ihrem Schiff ins Blaue 250
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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