Seite - 250 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Handschrift an seinem großen Roman, beantwortete Hunderte von Fragen,
mit denen sich aus seiner Heimat junge Schriftsteller und Arbeiter an ihn
wandten; mit ihm beisammen zu sein hieß für mich Rußland erleben, nicht
das bolschewistische, nicht das von einst und nicht das von heute, sondern des
ewigen Volkes weite, starke und dunkle Seele. Innerlich war er in jenen
Jahren noch nicht ganz entschieden. Als alter Revolutionär hatte er den
Umsturz gewollt, war mit Lenin persönlich befreundet gewesen, aber er
zögerte damals noch, sich ganz der Partei zu verschreiben, »Pope zu werden
oder Papst«, wie er sagte, und doch drückte ihn das Gewissen, in jenen
Jahren, wo jede Woche Entscheidung brachte, nicht mit den Seinen zu sein.
Zufällig wurde ich in jenen Tagen Zeuge einer solchen, sehr
charakteristischen, durchaus neu-russischen Szene, die mir seinen ganzen
Zwiespalt enthüllte. Zum erstenmal war in Neapel ein russisches Kriegsschiff
auf einer Übungsfahrt eingelaufen. Die jungen Matrosen, die nie in der
Weltstadt gewesen, promenierten in ihren schmucken Uniformen durch die
Via Toledo und konnten sich mit ihren großen, neugierigen Bauernaugen
nicht sattsehen an all dem Neuen. Am nächsten Tag entschloß sich ein Trupp
von ihnen, nach Sorrent hinüberzufahren, um ›ihren‹ Dichter zu besuchen. Sie
sagten sich nicht an; in ihrer russischen Bruderschaftsidee war es ihnen ganz
selbstverständlich, daß ›ihr‹ Dichter jederzeit für sie Zeit haben müsse.
Plötzlich standen sie vor seinem Haus, und sie hatten richtig gefühlt: Gorkij
ließ sie nicht warten und lud sie zu Gast. Aber – Gorkij erzählte es selbst
lachend am nächsten Tage – diese jungen Leute, denen nichts höher stand als
die ›Sache‹, gebärdeten sich zunächst recht streng zu ihm. »Wie wohnst du
da«, sagten sie, kaum in die schöne behagliche Villa eingetreten. »Du lebst ja
ganz wie ein Bourgeois. Und warum kommst du eigentlich nicht nach
Rußland zurück?« Gorkij mußte ihnen alles ausführlich erklären, so gut er
konnte. Aber im Grunde meinten es die braven Jungen auch nicht so streng.
Sie hatten eben nur zeigen wollen, daß sie vor Ruhm keinen ›Respekt‹ hatten
und jeden zuerst auf seine Gesinnung prüften. Unbefangen setzten sie sich
hin, tranken Tee, plauderten, und zum Schluß umarmte ihn einer nach dem
andern beim Abschied. Es war wunderbar, wie Gorkij die Szene erzählte,
ganz verliebt in die lockere freie Art dieser neuen Generation und ohne im
mindesten etwa durch ihre Burschikosität gekränkt zu sein. »Wie anders wir
waren«, wiederholte er immer, »entweder geduckt oder voll Vehemenz, aber
nie sicher unserer selbst.« Den ganzen Abend leuchteten seine Augen. Und
als ich ihm sagte: »Ich glaube, am liebsten wären Sie mit ihnen
heimgefahren«, stutzte er, sah mich scharf an. »Wieso wissen Sie das?
Wirklich, ich habe bis zum letzten Augenblick noch überlegt, ob ich nicht
alles stehen und liegen lassen sollte, die Bücher, die Papiere und die Arbeit,
und mit solchen jungen Burschen vierzehn Tage auf ihrem Schiff ins Blaue
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286