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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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rasch hinab in die Kabine. Es war mir zu schmerzlich, noch einen Blick auf dieses schöne Land zu tun, das durch fremde Schuld grauenhafter Verwüstung anheimgefallen war; todgeweiht schien mir Europa durch seinen eigenen Wahn, Europa, unsere heilige Heimat, die Wiege und das Parthenon unserer abendländischen Zivilisation. Um so beglückender bot sich dann der Blick auf Argentinien. Da war Spanien noch einmal, seine alte Kultur, behütet und bewahrt in einer neuen, weiteren, noch nicht mit Blut gedüngten, noch nicht mit Haß vergifteten Erde. Da war Fülle der Nahrung, Reichtum und Überschuß, da war unendlicher Raum und damit künftige Nahrung. Unermeßliche Beglückung und eine Art neuer Zuversicht kamen über mich. Waren nicht seit Tausenden Jahren die Kulturen gewandert von einem Land zum andern, waren nicht immer, wenn der Baum auch der Axt verfallen, die Samen gerettet worden und damit neue Blüten, neue Frucht? Was Generationen vor uns und um uns geschaffen, es ging doch niemals ganz verloren. Man mußte nur lernen, in größeren Dimensionen zu denken, mit weiteren Zeiträumen zu rechnen. Man sollte beginnen, sagte ich mir, nicht mehr bloß europäisch zu denken, sondern über Europa hinaus, nicht sich selbst in einer absterbenden Vergangenheit begraben, sondern teilhaben an ihrer Wiedergeburt. Denn an der Herzlichkeit, mit der die ganze Bevölkerung dieser neuen Millionenstadt an unserem Kongreß teilnahm, erkannte ich, daß wir hier nicht fremd waren, und daß hier der Glaube an die geistige Einheit, dem wir das Beste unseres Lebens zugewendet, noch lebte und galt und wirkte, daß also in unserer Zeit der neuen Geschwindigkeiten auch der Ozean nicht mehr trennte. Eine neue Aufgabe war da statt der alten: die Gemeinsamkeit, die wir erträumten, in weiterem Maß und in kühneren Zusammenfassungen aufzubauen. Hatte ich Europa verlorengegeben seit jenem letzten Blick auf den kommenden Krieg, so begann ich unter dem Kreuz des Südens wieder zu hoffen und zu glauben. Ein nicht weniger mächtiger Eindruck, eine nicht geringere Verheißung ward mir Brasilien, dieses von der Natur verschwenderisch beschenkte Land mit der schönsten Stadt auf Erden, dieses Land, dessen riesigen Raum noch heute nicht die Bahnen, nicht die Straßen und kaum das Flugzeug ganz zu durchmessen vermögen. Hier war die Vergangenheit sorgsamer bewahrt als in Europa selbst, hier war noch nicht die Verrohung, die der erste Weltkrieg mit sich gebracht, in die Sitten, in den Geist der Nationen eingedrungen. Friedlicher lebten hier die Menschen zusammen, höflicher, nicht so feindselig wie bei uns war der Verkehr selbst zwischen den verschiedensten Rassen. Hier war nicht durch absurde Theorien von Blut und Stamm und Herkunft der Mensch abgeteilt vom Menschen, hier konnte man, so fühlte man mit merkwürdiger Ahnung voraus, noch friedlich leben, hier war der Raum, um dessen ärmste Quentchen in Europa die Staaten kämpften und die Politiker 292
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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