Seite - 292 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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rasch hinab in die Kabine. Es war mir zu schmerzlich, noch einen Blick auf
dieses schöne Land zu tun, das durch fremde Schuld grauenhafter Verwüstung
anheimgefallen war; todgeweiht schien mir Europa durch seinen eigenen
Wahn, Europa, unsere heilige Heimat, die Wiege und das Parthenon unserer
abendländischen Zivilisation.
Um so beglückender bot sich dann der Blick auf Argentinien. Da war
Spanien noch einmal, seine alte Kultur, behütet und bewahrt in einer neuen,
weiteren, noch nicht mit Blut gedüngten, noch nicht mit Haß vergifteten Erde.
Da war Fülle der Nahrung, Reichtum und Überschuß, da war unendlicher
Raum und damit künftige Nahrung. Unermeßliche Beglückung und eine Art
neuer Zuversicht kamen über mich. Waren nicht seit Tausenden Jahren die
Kulturen gewandert von einem Land zum andern, waren nicht immer, wenn
der Baum auch der Axt verfallen, die Samen gerettet worden und damit neue
Blüten, neue Frucht? Was Generationen vor uns und um uns geschaffen, es
ging doch niemals ganz verloren. Man mußte nur lernen, in größeren
Dimensionen zu denken, mit weiteren Zeiträumen zu rechnen. Man sollte
beginnen, sagte ich mir, nicht mehr bloß europäisch zu denken, sondern über
Europa hinaus, nicht sich selbst in einer absterbenden Vergangenheit
begraben, sondern teilhaben an ihrer Wiedergeburt. Denn an der Herzlichkeit,
mit der die ganze Bevölkerung dieser neuen Millionenstadt an unserem
Kongreß teilnahm, erkannte ich, daß wir hier nicht fremd waren, und daß hier
der Glaube an die geistige Einheit, dem wir das Beste unseres Lebens
zugewendet, noch lebte und galt und wirkte, daß also in unserer Zeit der
neuen Geschwindigkeiten auch der Ozean nicht mehr trennte. Eine neue
Aufgabe war da statt der alten: die Gemeinsamkeit, die wir erträumten, in
weiterem Maß und in kühneren Zusammenfassungen aufzubauen. Hatte ich
Europa verlorengegeben seit jenem letzten Blick auf den kommenden Krieg,
so begann ich unter dem Kreuz des Südens wieder zu hoffen und zu glauben.
Ein nicht weniger mächtiger Eindruck, eine nicht geringere Verheißung
ward mir Brasilien, dieses von der Natur verschwenderisch beschenkte Land
mit der schönsten Stadt auf Erden, dieses Land, dessen riesigen Raum noch
heute nicht die Bahnen, nicht die Straßen und kaum das Flugzeug ganz zu
durchmessen vermögen. Hier war die Vergangenheit sorgsamer bewahrt als in
Europa selbst, hier war noch nicht die Verrohung, die der erste Weltkrieg mit
sich gebracht, in die Sitten, in den Geist der Nationen eingedrungen.
Friedlicher lebten hier die Menschen zusammen, höflicher, nicht so feindselig
wie bei uns war der Verkehr selbst zwischen den verschiedensten Rassen.
Hier war nicht durch absurde Theorien von Blut und Stamm und Herkunft der
Mensch abgeteilt vom Menschen, hier konnte man, so fühlte man mit
merkwürdiger Ahnung voraus, noch friedlich leben, hier war der Raum, um
dessen ärmste Quentchen in Europa die Staaten kämpften und die Politiker
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286