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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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quengelten, in ungemessener Fülle der Zukunft bereit. Hier wartete das Land noch auf den Menschen, daß er es nutze und mit seiner Gegenwart erfülle. Hier konnte, was Europa an Zivilisation geschaffen, in neuen und anderen Formen sich großartig fortsetzen und entwickeln. Ich hatte, das Auge beglückt durch die tausendfältige Schönheit dieser neuen Natur, einen Blick in die Zukunft getan. Aber reisen und selbst weithin reisen bis unter andere Sterne und in andere Welten hieß nicht Europa und der Sorge um Europa entfliehen. Fast scheint es boshafte Rache der Natur an dem Menschen, daß alle die Errungenschaften der Technik, dank derer er die geheimnisvollsten ihrer Gewalten in seine Hände gerafft, ihm gleichzeitig die Seele verstören. Keinen schlimmeren Fluch hat die Technik über uns gebracht, als daß sie uns verhindert, auch nur für einen Augenblick der Gegenwart zu entfliehen. Frühere Geschlechter konnten sich in Katastrophenzeiten zurückflüchten in Einsamkeit und Abseitigkeit; uns erst war es vorbehalten, alles in der gleichen Stunde und Sekunde wissen und empfinden zu müssen, was irgendwo Schlimmes auf unserem Erdball geschieht. Wie weit ich mich auch entfernte von Europa, sein Schicksal ging mit mir. In Pernambuco landend des Nachts, das Kreuz des Südens über dem Haupt, dunkelfarbige Menschen um mich in den Straßen, sah ich angeschlagen auf einem Blatt die Nachricht über das Bombardement von Barcelona und die Erschießung eines spanischen Freundes, mit dem ich vor einigen Monaten gemeinsame gute Stunden verbracht. In Texas, zwischen Houston und einer anderen Petroleumstadt im Pullman-Wagen hinsausend, hörte ich plötzlich jemanden heftig deutsch schreien und toben: ein ahnungsloser Mitreisender hatte das Radio des Zuges auf die Welle Deutschland gestellt, und so mußte ich, hinrollend im Zug durch die Ebene von Texas, einer Brandrede Hitlers lauschen. Es gab kein Entfliehen, nicht tags und nicht nachts; immer mußte ich mit quälender Sorge an Europa denken und innerhalb Europas immer an Österreich. Vielleicht scheint es kleinlicher Patriotismus, daß in dem ungeheuren Komplex der Gefahr, der von China bis hinüber an den Ebro und Manzanares reicht, mich gerade das Schicksal Österreichs besonders beschäftigte. Aber ich wußte, daß das Schicksal ganz Europas an dieses kleine Land – zufällig mein Heimatland – gebunden war. Wenn man rückblickend versucht, die Fehler der Politik nach dem Weltkriege aufzuweisen, so wird man als den größten erkennen, daß die europäischen ebenso wie die amerikanischen Politiker den klaren, einfachen Plan Wilsons nicht durchgeführt, sondern verstümmelt haben. Seine Idee war, den kleinen Nationen Freiheit und Selbständigkeit zu geben, aber er hatte richtig erkannt, daß diese Freiheit und Selbständigkeit nur haltbar sein könnte innerhalb einer Bindung aller großen und kleinen Staaten zu einer übergeordneten Einheit. Indem man diese übergeordnete Organisation – den 293
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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