Seite - 293 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 293 -
Text der Seite - 293 -
quengelten, in ungemessener Fülle der Zukunft bereit. Hier wartete das Land
noch auf den Menschen, daß er es nutze und mit seiner Gegenwart erfülle.
Hier konnte, was Europa an Zivilisation geschaffen, in neuen und anderen
Formen sich großartig fortsetzen und entwickeln. Ich hatte, das Auge
beglückt durch die tausendfältige Schönheit dieser neuen Natur, einen Blick
in die Zukunft getan.
Aber reisen und selbst weithin reisen bis unter andere Sterne und in andere
Welten hieß nicht Europa und der Sorge um Europa entfliehen. Fast scheint es
boshafte Rache der Natur an dem Menschen, daß alle die Errungenschaften
der Technik, dank derer er die geheimnisvollsten ihrer Gewalten in seine
Hände gerafft, ihm gleichzeitig die Seele verstören. Keinen schlimmeren
Fluch hat die Technik über uns gebracht, als daß sie uns verhindert, auch nur
für einen Augenblick der Gegenwart zu entfliehen. Frühere Geschlechter
konnten sich in Katastrophenzeiten zurückflüchten in Einsamkeit und
Abseitigkeit; uns erst war es vorbehalten, alles in der gleichen Stunde und
Sekunde wissen und empfinden zu müssen, was irgendwo Schlimmes auf
unserem Erdball geschieht. Wie weit ich mich auch entfernte von Europa,
sein Schicksal ging mit mir. In Pernambuco landend des Nachts, das Kreuz
des Südens über dem Haupt, dunkelfarbige Menschen um mich in den
Straßen, sah ich angeschlagen auf einem Blatt die Nachricht über das
Bombardement von Barcelona und die Erschießung eines spanischen
Freundes, mit dem ich vor einigen Monaten gemeinsame gute Stunden
verbracht. In Texas, zwischen Houston und einer anderen Petroleumstadt im
Pullman-Wagen hinsausend, hörte ich plötzlich jemanden heftig deutsch
schreien und toben: ein ahnungsloser Mitreisender hatte das Radio des Zuges
auf die Welle Deutschland gestellt, und so mußte ich, hinrollend im Zug durch
die Ebene von Texas, einer Brandrede Hitlers lauschen. Es gab kein
Entfliehen, nicht tags und nicht nachts; immer mußte ich mit quälender Sorge
an Europa denken und innerhalb Europas immer an Österreich. Vielleicht
scheint es kleinlicher Patriotismus, daß in dem ungeheuren Komplex der
Gefahr, der von China bis hinüber an den Ebro und Manzanares reicht, mich
gerade das Schicksal Österreichs besonders beschäftigte. Aber ich wußte, daß
das Schicksal ganz Europas an dieses kleine Land – zufällig mein Heimatland
– gebunden war. Wenn man rückblickend versucht, die Fehler der Politik nach
dem Weltkriege aufzuweisen, so wird man als den größten erkennen, daß die
europäischen ebenso wie die amerikanischen Politiker den klaren, einfachen
Plan Wilsons nicht durchgeführt, sondern verstümmelt haben. Seine Idee war,
den kleinen Nationen Freiheit und Selbständigkeit zu geben, aber er hatte
richtig erkannt, daß diese Freiheit und Selbständigkeit nur haltbar sein könnte
innerhalb einer Bindung aller großen und kleinen Staaten zu einer
übergeordneten Einheit. Indem man diese übergeordnete Organisation – den
293
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286