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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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sofort zu der Seite hinüberrollt, wo die Schwerkraft der momentanen Macht liegt. Ich wußte, daß dieselben Stimmen, die heute ›Heil Schuschnigg‹ riefen, morgen ›Heil Hitler‹ brausen würden. Aber alle in Wien, die ich sprach, zeigten ehrliche Sorglosigkeit. Sie luden sich gegenseitig in Smoking und Frack zu Geselligkeiten (nicht ahnend, daß sie bald die Sträflingstracht der Konzentrationslager tragen würden), sie überliefen die Geschäfte mit Weihnachtseinkäufen für ihre schönen Häuser (nicht ahnend, daß man sie ihnen wenige Monate später nehmen und plündern würde). Und diese ewige Sorglosigkeit des alten Wien, die ich vordem so sehr geliebt, und der ich eigentlich mein ganzes Leben nachträume, diese Sorglosigkeit, die der Wiener Nationaldichter Anzengruber einmal in das knappe Axiom gefaßt: »Es kann dir nix g’schehn«, sie tat mir zum ersten Male weh. Aber vielleicht waren sie im letzten Sinne weiser als ich, all diese Freunde in Wien, weil sie alles erst erlitten, als es wirklich geschah, indes ich das Unheil im voraus schon phantasiehaft erlitt und im Geschehen dann noch ein zweitesmal. Immerhin – ich verstand sie nicht mehr und konnte mich ihnen nicht verständlich machen. Nach dem zweiten Tag warnte ich niemanden mehr. Wozu Menschen verstören, die sich nicht stören lassen wollten? Aber man nehme es nicht als nachträgliche Aufschmückung, sondern als lauterste Wahrheit, wenn ich sage: ich habe in jenen letzten zwei Tagen in Wien jede einzelne der vertrauten Straßen, jede Kirche, jeden Garten, jeden alten Winkel der Stadt, in der ich geboren war, mit einem verzweifelten, stummen ›Nie mehr‹ angeblickt. Ich habe meine Mutter umarmt mit diesem geheimen ›Es ist das letztemal‹. Alles in dieser Stadt, in diesem Land habe ich empfunden mit diesem ›Nie wieder!‹, mit dem Bewußtsein, daß es ein Abschied war, der Abschied für immer. An Salzburg, der Stadt, wo das Haus stand, in dem ich zwanzig Jahre gearbeitet, fuhr ich vorbei, ohne auch nur an der Bahnstation auszusteigen. Ich hätte zwar vom Waggonfenster aus mein Haus am Hügel sehen können mit all den Erinnerungen abgelebter Jahre. Aber ich blickte nicht hin. Wozu auch? – ich würde es doch nie wieder bewohnen. Und in dem Augenblick, wo der Zug über die Grenze rollte, wußte ich wie der Urvater Lot der Bibel, daß alles hinter mir Staub und Asche war, zu bitterem Salz erstarrte Vergangenheit. Ich meinte, alles Furchtbare vorausgefühlt zu haben, was geschehen könnte, wenn Hitlers Haßtraum sich erfüllen und er Wien, die Stadt, die ihn als jungen Menschen arm und erfolglos von sich gestoßen, als Triumphator besetzen würde. Aber wie zaghaft, wie klein, wie kläglich erwies sich meine, erwies sich jede menschliche Phantasie gegen die Unmenschlichkeit, die sich entlud an jenem 13. März 1938, dem Tage, da Österreich und damit Europa 296
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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