Seite - 296 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 296 -
Text der Seite - 296 -
sofort zu der Seite hinüberrollt, wo die Schwerkraft der momentanen Macht
liegt. Ich wußte, daß dieselben Stimmen, die heute ›Heil Schuschnigg‹ riefen,
morgen ›Heil Hitler‹ brausen würden. Aber alle in Wien, die ich sprach,
zeigten ehrliche Sorglosigkeit. Sie luden sich gegenseitig in Smoking und
Frack zu Geselligkeiten (nicht ahnend, daß sie bald die Sträflingstracht der
Konzentrationslager tragen würden), sie überliefen die Geschäfte mit
Weihnachtseinkäufen für ihre schönen Häuser (nicht ahnend, daß man sie
ihnen wenige Monate später nehmen und plündern würde). Und diese ewige
Sorglosigkeit des alten Wien, die ich vordem so sehr geliebt, und der ich
eigentlich mein ganzes Leben nachträume, diese Sorglosigkeit, die der Wiener
Nationaldichter Anzengruber einmal in das knappe Axiom gefaßt: »Es kann
dir nix g’schehn«, sie tat mir zum ersten Male weh. Aber vielleicht waren sie
im letzten Sinne weiser als ich, all diese Freunde in Wien, weil sie alles erst
erlitten, als es wirklich geschah, indes ich das Unheil im voraus schon
phantasiehaft erlitt und im Geschehen dann noch ein zweitesmal. Immerhin –
ich verstand sie nicht mehr und konnte mich ihnen nicht verständlich machen.
Nach dem zweiten Tag warnte ich niemanden mehr. Wozu Menschen
verstören, die sich nicht stören lassen wollten?
Aber man nehme es nicht als nachträgliche Aufschmückung, sondern als
lauterste Wahrheit, wenn ich sage: ich habe in jenen letzten zwei Tagen in
Wien jede einzelne der vertrauten Straßen, jede Kirche, jeden Garten, jeden
alten Winkel der Stadt, in der ich geboren war, mit einem verzweifelten,
stummen ›Nie mehr‹ angeblickt. Ich habe meine Mutter umarmt mit diesem
geheimen ›Es ist das letztemal‹. Alles in dieser Stadt, in diesem Land habe ich
empfunden mit diesem ›Nie wieder!‹, mit dem Bewußtsein, daß es ein
Abschied war, der Abschied für immer. An Salzburg, der Stadt, wo das Haus
stand, in dem ich zwanzig Jahre gearbeitet, fuhr ich vorbei, ohne auch nur an
der Bahnstation auszusteigen. Ich hätte zwar vom Waggonfenster aus mein
Haus am Hügel sehen können mit all den Erinnerungen abgelebter Jahre.
Aber ich blickte nicht hin. Wozu auch? – ich würde es doch nie wieder
bewohnen. Und in dem Augenblick, wo der Zug über die Grenze rollte, wußte
ich wie der Urvater Lot der Bibel, daß alles hinter mir Staub und Asche war,
zu bitterem Salz erstarrte Vergangenheit.
Ich meinte, alles Furchtbare vorausgefühlt zu haben, was geschehen
könnte, wenn Hitlers Haßtraum sich erfüllen und er Wien, die Stadt, die ihn
als jungen Menschen arm und erfolglos von sich gestoßen, als Triumphator
besetzen würde. Aber wie zaghaft, wie klein, wie kläglich erwies sich meine,
erwies sich jede menschliche Phantasie gegen die Unmenschlichkeit, die sich
entlud an jenem 13. März 1938, dem Tage, da Österreich und damit Europa
296
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286