Page - 304 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 304 -
Text of the Page - 304 -
verraten, wie sehr es den Krieg verabscheute, wie sehr es zu jedem Opfer
bereit war, zu jeder Preisgabe seiner Interessen und sogar seines Prestiges um
des Friedens willen. Von vornherein war dadurch Chamberlain
gekennzeichnet als einer, der nach München ging, nicht um den Frieden zu
erkämpfen, sondern um ihn zu erbitten. Aber niemand ahnte damals noch,
welche Kapitulation bevorstand. Alle meinten – auch ich selbst, ich leugne es
nicht –, Chamberlain ginge nach München, um zu verhandeln und nicht, um
zu kapitulieren. Dann kamen noch zwei Tage, drei Tage des brennenden
Wartens, drei Tage, in denen die ganze Welt gleichsam den Atem anhielt. In
den Parks wurde gegraben, in den Kriegsfabriken gearbeitet,
Abwehrgeschütze aufgestellt, Gasmasken ausgeteilt, der Abtransport der
Kinder aus London erwogen und geheimnisvolle Vorbereitungen getroffen,
die der einzelne nicht verstand, und von denen doch jeder wußte, worauf sie
zielten. Wieder verging der Morgen, der Mittag; der Abend, die Nacht mit
dem Warten auf die Zeitung, mit dem Horchen am Radio. Wieder erneuerten
sich jene Augenblicke des Juli 1914 mit dem fürchterlichen,
nervenzerstörenden Warten auf das Ja oder Nein.
Und dann war plötzlich, wie durch einen ungeheuren Windstoß, das
drückende Gewölk zerstoben, die Herzen waren entlastet, die Seelen wieder
frei. Die Nachricht war gekommen, daß Hitler und Chamberlain, Daladier und
Mussolini zu völliger Übereinstimmung gelangt seien, und mehr noch – daß
es Chamberlain gelungen sei, mit Deutschland eine Vereinbarung zu
schließen, welche die friedliche Bereinigung aller zwischen diesen
Ländern möglichen Konflikte für alle Zukunft verbürge. Es schien ein
entscheidender Sieg des zähen Friedenswillens eines an sich unbeträchtlichen
und ledernen Staatsmannes, und alle Herzen schlugen ihm in dieser ersten
Stunde dankbar entgegen. Im Radio vernahm man zuerst die Botschaft ›peace
for our time‹, die für unsere geprüfte Generation verkündete, wir dürften noch
einmal in Frieden leben, noch einmal sorglos sein, noch einmal mithelfen an
dem Aufbau einer neuen, einer besseren Welt, und jeder lügt, der nachträglich
zu leugnen versucht, wie berauscht wir waren von diesem magischen Wort.
Denn wer konnte glauben, daß ein geschlagen Heimkehrender zum
Triumphzug rüstete? Hätte die große Masse in London an jenem Morgen, da
Chamberlain von München zurückkam, die genaue Stunde seines Eintreffens
gewußt, Hunderttausende wären zu dem Flugfeld von Croydon hingestürmt,
ihn zu begrüßen und dem Manne zuzujubeln, der, wie wir alle in dieser
Stunde meinten, den Frieden Europas und die Ehre Englands gerettet. Dann
kamen die Zeitungen. Sie zeigten im Bild, wie Chamberlain, dessen hartes
Gesicht sonst eine fatale Ähnlichkeit mit dem Kopf eines gereizten Vogels
hatte, stolz und lachend von der Tür des Flugzeuges aus jenes historische
Blatt schwenkte, das ›peace for our time‹ verkündete, und das er seinem
304
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286