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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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verraten, wie sehr es den Krieg verabscheute, wie sehr es zu jedem Opfer bereit war, zu jeder Preisgabe seiner Interessen und sogar seines Prestiges um des Friedens willen. Von vornherein war dadurch Chamberlain gekennzeichnet als einer, der nach München ging, nicht um den Frieden zu erkämpfen, sondern um ihn zu erbitten. Aber niemand ahnte damals noch, welche Kapitulation bevorstand. Alle meinten – auch ich selbst, ich leugne es nicht –, Chamberlain ginge nach München, um zu verhandeln und nicht, um zu kapitulieren. Dann kamen noch zwei Tage, drei Tage des brennenden Wartens, drei Tage, in denen die ganze Welt gleichsam den Atem anhielt. In den Parks wurde gegraben, in den Kriegsfabriken gearbeitet, Abwehrgeschütze aufgestellt, Gasmasken ausgeteilt, der Abtransport der Kinder aus London erwogen und geheimnisvolle Vorbereitungen getroffen, die der einzelne nicht verstand, und von denen doch jeder wußte, worauf sie zielten. Wieder verging der Morgen, der Mittag; der Abend, die Nacht mit dem Warten auf die Zeitung, mit dem Horchen am Radio. Wieder erneuerten sich jene Augenblicke des Juli 1914 mit dem fürchterlichen, nervenzerstörenden Warten auf das Ja oder Nein. Und dann war plötzlich, wie durch einen ungeheuren Windstoß, das drückende Gewölk zerstoben, die Herzen waren entlastet, die Seelen wieder frei. Die Nachricht war gekommen, daß Hitler und Chamberlain, Daladier und Mussolini zu völliger Übereinstimmung gelangt seien, und mehr noch – daß es Chamberlain gelungen sei, mit Deutschland eine Vereinbarung zu schließen, welche die friedliche Bereinigung aller zwischen diesen Ländern möglichen Konflikte für alle Zukunft verbürge. Es schien ein entscheidender Sieg des zähen Friedenswillens eines an sich unbeträchtlichen und ledernen Staatsmannes, und alle Herzen schlugen ihm in dieser ersten Stunde dankbar entgegen. Im Radio vernahm man zuerst die Botschaft ›peace for our time‹, die für unsere geprüfte Generation verkündete, wir dürften noch einmal in Frieden leben, noch einmal sorglos sein, noch einmal mithelfen an dem Aufbau einer neuen, einer besseren Welt, und jeder lügt, der nachträglich zu leugnen versucht, wie berauscht wir waren von diesem magischen Wort. Denn wer konnte glauben, daß ein geschlagen Heimkehrender zum Triumphzug rüstete? Hätte die große Masse in London an jenem Morgen, da Chamberlain von München zurückkam, die genaue Stunde seines Eintreffens gewußt, Hunderttausende wären zu dem Flugfeld von Croydon hingestürmt, ihn zu begrüßen und dem Manne zuzujubeln, der, wie wir alle in dieser Stunde meinten, den Frieden Europas und die Ehre Englands gerettet. Dann kamen die Zeitungen. Sie zeigten im Bild, wie Chamberlain, dessen hartes Gesicht sonst eine fatale Ähnlichkeit mit dem Kopf eines gereizten Vogels hatte, stolz und lachend von der Tür des Flugzeuges aus jenes historische Blatt schwenkte, das ›peace for our time‹ verkündete, und das er seinem 304
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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