Page - 305 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Volke als die kostbarste Gabe heimgebracht. Abends zeigte man die Szene
schon im Kino; die Menschen sprangen auf von ihren Sitzen und jubelten und
schrien – beinahe daß sie einander umarmten im Gefühl der neuen
Brüderlichkeit, die nun für die Welt beginnen sollte. Für jeden, der damals in
London, in England war, ist dies ein unvergleichlicher, ein die Seele
beschwingender Tag gewesen.
Ich liebe es, an solchen historischen Tagen in den Straßen herumzustreifen,
um die Atmosphäre stärker, sinnlicher zu fühlen, um im wahrsten Sinne die
Luft der Zeit zu atmen. In den Gärten hatten die Arbeiter das Graben der
Unterstände eingestellt, lachend und schwatzend standen die Leute um sie,
denn durch ›peace for our time‹ waren doch Luftschutzkeller überflüssig
geworden; zwei junge Burschen hörte ich im besten Cockney spotten, man
werde hoffentlich aus diesen Unterständen unterirdische Bedürfnisanstalten
machen, es gebe ja deren in London nicht genug. Jeder lachte gerne mit, alle
Menschen schienen erfrischter, belebter, wie Pflanzen nach einem Gewitter.
Sie gingen aufrechter als am Tage zuvor und mit leichteren Schultern, und in
ihren sonst so kühlen englischen Augen schimmerte ein heiterer Glanz. Die
Häuser schienen leuchtender, seit man sie nicht mehr bedroht wußte von
Bomben, die Autobusse schmucker, die Sonne heller, das Leben von
Tausenden und Tausenden gesteigert und verstärkt durch dieses eine
berauschende Wort. Und ich spürte, wie es mich selber beschwingte. Ich ging
unermüdlich und immer rascher und gelöster, auch mich trug die Welle der
neuen Zuversicht kraftvoller und freudiger dahin. An der Ecke von Piccadilly
kam plötzlich jemand hastig auf mich zu. Es war ein englischer
Regierungsbeamter, den ich eigentlich nur flüchtig kannte, ein durchaus
unemotioneller, sehr in sich verhaltener Mann. Unter gewöhnlichen
Umständen hätten wir uns sonst nur höflich gegrüßt, und nie wäre es ihm
eingefallen, mich anzusprechen. Aber jetzt kam er mit leuchtenden Augen auf
mich zu. »Was sagen Sie zu Chamberlain«, sagte er, strahlend vor Freude.
»Niemand hat ihm geglaubt, und er hat doch das Rechte getan. Er hat nicht
nachgegeben und damit den Frieden gerettet.«
So fühlten sie alle; so fühlte auch ich an jenem Tage. Und noch der nächste
war einer des Glücks. Einmütig jubelten die Zeitungen, an der Börse sprangen
die Kurse wild empor, von Deutschland kamen zum erstenmal seit Jahren
wieder freundliche Stimmen, in Frankreich schlug man vor, Chamberlain ein
Denkmal zu errichten. Aber ach, es war nur das letzte leuchtende Auflodern
der Flamme, ehe sie endgültig verlischt. Schon in den nächsten Tagen
sickerten die schlimmen Einzelheiten durch, wie restlos die Kapitulation vor
Hitler gewesen, wie schmählich man die Tschechoslowakei preisgegeben, der
man feierlich Hilfe und Unterstützung zugesichert, und in der nächsten
Woche war es bereits offenkundig, daß selbst die Kapitulation Hitler noch
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286