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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Volke als die kostbarste Gabe heimgebracht. Abends zeigte man die Szene schon im Kino; die Menschen sprangen auf von ihren Sitzen und jubelten und schrien – beinahe daß sie einander umarmten im Gefühl der neuen Brüderlichkeit, die nun für die Welt beginnen sollte. Für jeden, der damals in London, in England war, ist dies ein unvergleichlicher, ein die Seele beschwingender Tag gewesen. Ich liebe es, an solchen historischen Tagen in den Straßen herumzustreifen, um die Atmosphäre stärker, sinnlicher zu fühlen, um im wahrsten Sinne die Luft der Zeit zu atmen. In den Gärten hatten die Arbeiter das Graben der Unterstände eingestellt, lachend und schwatzend standen die Leute um sie, denn durch ›peace for our time‹ waren doch Luftschutzkeller überflüssig geworden; zwei junge Burschen hörte ich im besten Cockney spotten, man werde hoffentlich aus diesen Unterständen unterirdische Bedürfnisanstalten machen, es gebe ja deren in London nicht genug. Jeder lachte gerne mit, alle Menschen schienen erfrischter, belebter, wie Pflanzen nach einem Gewitter. Sie gingen aufrechter als am Tage zuvor und mit leichteren Schultern, und in ihren sonst so kühlen englischen Augen schimmerte ein heiterer Glanz. Die Häuser schienen leuchtender, seit man sie nicht mehr bedroht wußte von Bomben, die Autobusse schmucker, die Sonne heller, das Leben von Tausenden und Tausenden gesteigert und verstärkt durch dieses eine berauschende Wort. Und ich spürte, wie es mich selber beschwingte. Ich ging unermüdlich und immer rascher und gelöster, auch mich trug die Welle der neuen Zuversicht kraftvoller und freudiger dahin. An der Ecke von Piccadilly kam plötzlich jemand hastig auf mich zu. Es war ein englischer Regierungsbeamter, den ich eigentlich nur flüchtig kannte, ein durchaus unemotioneller, sehr in sich verhaltener Mann. Unter gewöhnlichen Umständen hätten wir uns sonst nur höflich gegrüßt, und nie wäre es ihm eingefallen, mich anzusprechen. Aber jetzt kam er mit leuchtenden Augen auf mich zu. »Was sagen Sie zu Chamberlain«, sagte er, strahlend vor Freude. »Niemand hat ihm geglaubt, und er hat doch das Rechte getan. Er hat nicht nachgegeben und damit den Frieden gerettet.« So fühlten sie alle; so fühlte auch ich an jenem Tage. Und noch der nächste war einer des Glücks. Einmütig jubelten die Zeitungen, an der Börse sprangen die Kurse wild empor, von Deutschland kamen zum erstenmal seit Jahren wieder freundliche Stimmen, in Frankreich schlug man vor, Chamberlain ein Denkmal zu errichten. Aber ach, es war nur das letzte leuchtende Auflodern der Flamme, ehe sie endgültig verlischt. Schon in den nächsten Tagen sickerten die schlimmen Einzelheiten durch, wie restlos die Kapitulation vor Hitler gewesen, wie schmählich man die Tschechoslowakei preisgegeben, der man feierlich Hilfe und Unterstützung zugesichert, und in der nächsten Woche war es bereits offenkundig, daß selbst die Kapitulation Hitler noch 305
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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