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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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wieder an einen herantritt. Der Sommer 1939 war gekommen, München längst vorüber mit seinem kurzatmigen Wahn ›peace for our time‹; schon hatte Hitler die verstümmelte Tschechoslowakei gegen Eid und Gelöbnis überfallen und an sich gerissen, schon war Memel besetzt, Danzig mit dem polnischen Korridor von der künstlich auf Tobsucht angekurbelten deutschen Presse gefordert. Ein bitteres Erwachen aus seiner loyalen Gutgläubigkeit war über England hereingebrochen. Selbst die einfachen, unbelehrten Leute, die nur instinktiv den Krieg verabscheuten, begannen heftigen Unmut zu äußern. Jeder der sonst so zurückhaltenden Engländer sprach einen an, der Portier, der unser weiträumiges Flat-House behütete, der Liftboy im Aufzug, das Stubenmädchen, während sie das Zimmer aufräumte. Keiner von ihnen verstand deutlich, was geschah, aber jeder erinnerte sich an das Eine, das unleugbar Offenbare, daß Chamberlain, der Premierminister Englands, dreimal nach Deutschland geflogen war, um den Frieden zu retten, und daß kein noch so herzliches Entgegenkommen Hitler genug getan. Im englischen Parlament hörte man mit einemmal harte Stimmen: ›Stop aggression!‹, überall spürte man die Vorbereitungen für (oder eigentlich gegen) den kommenden Krieg. Abermals begannen die hellen Abwehrballons – noch sahen sie unschuldig aus wie graue Spielelefanten von Kindern – über London zu schweben, abermals wurden Luftschutzunterstände aufgeworfen und die verteilten Gasmasken sorgfältig überprüft. Genau so gespannt war die Situation geworden wie vor einem Jahre und vielleicht noch gespannter, weil diesmal nicht mehr eine naive und arglose Bevölkerung, sondern eine schon entschlossene und erbitterte hinter der Regierung stand. Ich hatte in jenen Monaten London verlassen und mich auf das Land nach Bath zurückgezogen. Nie in meinem Leben hatte ich die Ohnmacht des Menschen gegen das Weltgeschehen grausamer empfunden. Da war man, ein wacher, denkender, abseits von allem Politischen wirkender Mensch, seiner Arbeit verschworen, und baute still und beharrlich daran, seine Jahre in Werk zu verwandeln. Und da waren irgendwo im Unsichtbaren ein Dutzend anderer Menschen, die man nicht kannte, die man nie gesehen, ein paar Leute in der Wilhelmstraße in Berlin, am Quai d’Orsay in Paris, im Palazzo Venezia in Rom und in der Downing Street in London, und diese zehn oder zwanzig Menschen, von denen die wenigsten bisher besondere Klugheit oder Geschicklichkeit bewiesen, sprachen und schrieben und telephonierten und paktierten über Dinge, die man nicht wußte. Sie faßten Entschlüsse, an denen man nicht teilhatte, und die man im einzelnen nicht erfuhr, und bestimmten damit doch endgültig über mein eigenes Leben und das jedes anderen in Europa. In ihren Händen und nicht in meinen eigenen lag jetzt mein Geschick. Sie zerstörten oder schonten uns Machtlose, sie ließen Freiheit oder zwangen in Knechtschaft, sie bestimmten für Millionen Krieg oder Frieden. 314
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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