Seite - 314 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 314 -
Text der Seite - 314 -
wieder an einen herantritt. Der Sommer 1939 war gekommen, München
längst vorüber mit seinem kurzatmigen Wahn ›peace for our time‹; schon
hatte Hitler die verstümmelte Tschechoslowakei gegen Eid und Gelöbnis
überfallen und an sich gerissen, schon war Memel besetzt, Danzig mit dem
polnischen Korridor von der künstlich auf Tobsucht angekurbelten deutschen
Presse gefordert. Ein bitteres Erwachen aus seiner loyalen Gutgläubigkeit war
über England hereingebrochen. Selbst die einfachen, unbelehrten Leute, die
nur instinktiv den Krieg verabscheuten, begannen heftigen Unmut zu äußern.
Jeder der sonst so zurückhaltenden Engländer sprach einen an, der Portier, der
unser weiträumiges Flat-House behütete, der Liftboy im Aufzug, das
Stubenmädchen, während sie das Zimmer aufräumte. Keiner von ihnen
verstand deutlich, was geschah, aber jeder erinnerte sich an das Eine, das
unleugbar Offenbare, daß Chamberlain, der Premierminister Englands,
dreimal nach Deutschland geflogen war, um den Frieden zu retten, und daß
kein noch so herzliches Entgegenkommen Hitler genug getan. Im englischen
Parlament hörte man mit einemmal harte Stimmen: ›Stop aggression!‹,
überall spürte man die Vorbereitungen für (oder eigentlich gegen) den
kommenden Krieg. Abermals begannen die hellen Abwehrballons – noch
sahen sie unschuldig aus wie graue Spielelefanten von Kindern – über
London zu schweben, abermals wurden Luftschutzunterstände aufgeworfen
und die verteilten Gasmasken sorgfältig überprüft. Genau so gespannt war die
Situation geworden wie vor einem Jahre und vielleicht noch gespannter, weil
diesmal nicht mehr eine naive und arglose Bevölkerung, sondern eine schon
entschlossene und erbitterte hinter der Regierung stand.
Ich hatte in jenen Monaten London verlassen und mich auf das Land nach
Bath zurückgezogen. Nie in meinem Leben hatte ich die Ohnmacht des
Menschen gegen das Weltgeschehen grausamer empfunden. Da war man, ein
wacher, denkender, abseits von allem Politischen wirkender Mensch, seiner
Arbeit verschworen, und baute still und beharrlich daran, seine Jahre in Werk
zu verwandeln. Und da waren irgendwo im Unsichtbaren ein Dutzend anderer
Menschen, die man nicht kannte, die man nie gesehen, ein paar Leute in der
Wilhelmstraße in Berlin, am Quai d’Orsay in Paris, im Palazzo Venezia in
Rom und in der Downing Street in London, und diese zehn oder zwanzig
Menschen, von denen die wenigsten bisher besondere Klugheit oder
Geschicklichkeit bewiesen, sprachen und schrieben und telephonierten und
paktierten über Dinge, die man nicht wußte. Sie faßten Entschlüsse, an denen
man nicht teilhatte, und die man im einzelnen nicht erfuhr, und bestimmten
damit doch endgültig über mein eigenes Leben und das jedes anderen in
Europa. In ihren Händen und nicht in meinen eigenen lag jetzt mein
Geschick. Sie zerstörten oder schonten uns Machtlose, sie ließen Freiheit oder
zwangen in Knechtschaft, sie bestimmten für Millionen Krieg oder Frieden.
314
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286