Page - 184 - in Wolfgang von Weisl - Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Image of the Page - 184 -
Text of the Page - 184 -
184 C. Wolfgang von Weisl
Er lachte mit offenem Mund, so dass Steinberg seine großen, gelben, nikotingefärb-
ten Zähne sah, die sich öffneten, wie sich eine Barriere auftut, die bisher dem jungen
Eldad den Eintritt ins Leben versperrt hatte. Denn : wenn Steinberg auch Dichter war
und Romantiker – er war doch russischer Sozialdemokrat, und der Eintritt ins Leben
war fĂĽr ihn gleichbedeutend mit dem Eintreten in die Beamtenlaufbahn der Partei.
2
W eiß wie Schnee lag knöcheltiefer Staub auf der Landstraße, die von der
Bahn-station
Jerusalem bergan zur Altstadt führt. Der Bahnhof war ein kleines, hässli-
ches Steinhaus, das besser der Endstation einer Vizinalbahn in den Alpen58 entsprochen
hätte als der Hauptstadt Palästinas, »der hochgebauten Stadt«, die bekanntlich in der
Mitte der Welt liegt. Und das ist sicher – jeder Fromme glaubt es, und jeder Astronom
vor Einstein hätte das bestätigt, sintemal jeder Punkt unseres Erdballs die Mitte der
Welt bildet, wenn man daran glaubt, dass die Welt unendlich ist.
Vor dem Bahngebäude wartete ein Dutzend Mietwagen. Schmierige Kutschen, ab-
gezehrte, halbverhungerte Pferde, Kutscher, deren Ellbogen aus zerrissenen Ärmeln
heraussahen und deren Feze in allen Farben zwischen Himbeerrot und Violett schim-
merten, je nach der Dicke der Staub- und SchweiĂźkruste, die auf ihnen lag. Sie riefen
eifrig Eldad an, als er mit seinem kleinen Koffer in der AusgangstĂĽr des Bahnhofs stand
und ungewiss nach den Zinnen der Stadtmauer Zions blickte, die im zitternden Glast
der Julisonne vor ihm lag.
Ein Kutscher, der schon ein bisschen Hebräisch aufgeschnappt hatte, versuchte, sich
als Jude auszugeben, und lockte den Reisenden in gebrochenem Hebräisch : »Bewaka-
schah, adoni, Schmoneh grush ! Raq Schmoneh grush ! Bitte Herr, bitte, nur acht Pias-
ter !«
Eldad Schu’al sah über den Mann hinweg, als ob er ihn nicht höre. Sei es, dass selbst
die acht Piaster ihm fĂĽr die Fahrt zur Stadt zu teuer schienen, sei es, dass er aus einem
völkisch nationalen Grundsatz nicht mit einem arabischen Wagen fuhr ; er ging zu Fuß
die Bergstraße hinan. Der feine, mehlige Kalkstaub wirbelte in kleinen Wölkchen rechts
und links von ihm auf, so oft er den FuĂź niedersetzte, und als die Wagen mit anderen
Fahrgästen, die später gekommen waren, an ihm vorbeiratterten, schlugen sie dichte
weiße Wolken wie Rauchfahnen nach ihm und hüllten ihn ein. Schu’al schüttelte sich,
spuckte den Staub aus, der ihm in den Mund gedrungen sein mochte. »Wie in einem
erbärmlichen Dorf in Wolhynien ist es hier«, dachte er. »Ob wir Juden jemals mit dem
58 Vizinalbahn : Eisenbahn in Bayern zur Erschließung des ländlichen Raums.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
back to the
book Wolfgang von Weisl - Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus"
Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- AbkĂĽrzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- EinbĂĽrgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355