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Der Anfang der Wandlung Israels 189
Eldad Schu’al war nicht zum ersten Mal in Jerusalem ; als er mit Trumpeldor vor
einem Jahr nach Palästina gekommen war, hatte er für ein paar Tage die Hauptstadt be-
sucht. Aber wie beim ersten Mal packten ihn Ekel und Widerwille, als er die Jaffastraße
aufwärts schlenderte, die denkbar hässlichste Straße in der denkbar schönsten Gebirgs-
landschaft. Rund um das enge Rhomboid66 der Jerusalemer Altstadt hob sich grau und
weiß die mittagsheiße, zinnengekrönte Türkenmauer in mittelalterlich-schöner Rein-
heit strenger Linien. Und von dieser Mauer, Inbegriff keuscher Romantik und stillen
Adels, hatten Krämer und Händler Besitz ergriffen. Hatten vor die heiligen, ruhigen
Steine billige Buden geklebt, hatten eng Tür an Tür gepresst, wie um besser ihre erbärm-
liche Kleinheit zu verbergen, die der schönen Mauer Licht und Leben nahm.67
Zwei, drei Krämer und Handwerker hockten in je einem Laden beisammen, der
kaum groß genug für einen einzigen Händler Europas gewesen wäre. Rechts und links
von den Ladentüren ein Fenster, einen Meter oder weniger breit. Am rechten Fenster
saß ein Optiker und feilte an einer Uhrfeder, weil nach geheimen Gesetzen Jerusalems
die Uhrmacherkunst und das Brillenmachen in mystischem Zusammenhang stehen.
Am anderen Fenster verkaufte ein alter weißbärtiger Jude Gebetbücher, Ansichtskarten,
gestickte Beutel und türkische Goldmünzen, während im Hintergrund des Ladens ein
Schneider einem Kunden einen Rock anmaß und die beiden Ladengenossen zu Zeugen
rief, noch nie habe er so billige Preise gemacht wie diesmal.
Und ähnlich war es überall in dieser Straße. Die ganze Armut der jüdischen Nation
schien hier an den Toren der hochgebauten Stadt zu abschreckender Schaustellung ver-
eint. Ein Volk von Schnorrern verlangt das königliche Zion für sich.
Gelassen und fast majestätisch nahmen sich die paar christlichen Geschäfte der al-
ten Straße aus. Ein armenischer Teppichhändler, schwedische, englische, amerikanische
Andenkengeschäfte, der arabische Kaffeehausgarten – damals die einzige Zuflucht der
gelangweilten britischen Offiziere und Beamten – standen wie Aristokraten zwischen
den jüdischen Buden.
Auf holprigem Pflaster drängten sich phantastische Gestalten fremder Himmels-
striche. Bärtige slowakische und polnische Juden mit langen schwarzen Kaftanen
über arabisch buntem Baumwollhemd ; dünnbeinige Juden aus dem Jemen mit flat-
ternden Schläfenlocken, armenische Priester in wallendem Talar ; russische Popen,
ihr langes Haar in Knoten gesteckt ; olivbraune abessinische Nonnen in schmutzig-
weißen Kutten ; katholische Mönche mit Sandalen an den nackten Füßen ; englische
66 Rhomboid/Raute : konvexes, ebenes Viereck, bei dem gegenüberliegende Seiten parallel verlaufen.
67 Vgl. LWV 261 f., wo WvW die 1967 vom damaligen (aus Ungarn stammenden, in Wien aufge-
wachsenen) Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek (1911–2007) angeordnete Abtragung der
»hässlichen« marokkanischen Hütten an der Klagemauer würdigt.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355