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Der Anfang der Wandlung Israels 191
Hunderttausende von vergrämten, hoffnungslosen Menschen mit engen Schultern,
fahrigen, schmalen Händen, gefurchten Stirnen und zuckenden, blutleeren Lippen war-
teten jetzt in dieser Stunde, in dieser Sekunde, irgendwo in Minsk oder Kowno, Klau-
senburg oder Munkács, Lodz oder Saloniki auf das Zeichen zum Aufbruch, auf den Ruf
zur Freiheit.70 Und er, Eldad, der junge, freie Pionier, wird helfen können, dass es ihnen
allen dienen wird, nur ihm selbst nicht.
Tiefe, schmerzhafte Liebe strömte durch ihn, füllte seine Brust mit solcher Macht,
dass sein Herz wehtat. Er liebte diese unbekannten Armseligen mit klarer, hoffnungs-
loser Leidenschaft, die von Selbsttäuschungen frei war. Er wusste, dass diese Menschen
ihm ewig fremd bleiben würden in ihrer verzagten Ärmlichkeit, wie er ihnen ewig un-
verständlich bleiben wird in seiner hemmungslosen Freiheit. Aber er wusste auch, dass
sein freigewähltes Schicksal hieß, ihnen zu dienen. Die sich nicht selbst verteidigen
konnten, zu beschützen. Denen zu helfen, die sich selbst nicht helfen konnten. Ohne
auf Lohn und Dank zu warten. Pflicht des Pioniers, der im Eisenhagel Brücken schlägt,
über die später die ganze Armee – die mutigen Rosse und schweren Geschütze, die
Diebe vom Proviantdienst und die versoffenen Etappenhengste – hinüberziehen, wäh-
rend er, der Pionier, neue Balken über den nächsten Strom baut, Straßen baut, die allen,
allen dienen, nur ihm selbst nicht.
Eldad fühlte, dass dies nicht nur sein Schicksal, sondern sein freier Wille war. Einmal,
ein einziges Mal, hatte sein Geschick ihn an den Scheideweg gestellt, damals, als er in
Kiew seine Hand dem Trumpeldor reichte. Damals hatte er gewählt, hatte für immer
über sein Leben entschieden. Jetzt war seine Bahn bestimmt, unentrinnbar, unveränder-
lich. Er würde die Brücke bauen, für Ahasvers Heimkehr.71
Eldad schüttelte, erwachend, die langen blau-schwarzen Locken aus dem Gesicht,
gab seinen Koffer dem Kameraden : »Warte auf mich. Ich bin bald wieder da. Hoffent-
lich.« Und ging in das Haus der Zionistischen Kommission, um sich bei Kazprin zu
melden.
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W enn Eldad gedacht hatte, in einigen Minuten mit seinem Antrittsbesuch fertig
zu werden, hatte er geirrt. In einem Bretterverschlag gegenüber der Stiege saß
70 Kowno (Kaunas) : Stadt in Litauen, Munkács : Stadt in der Ostslowakei, heute Ukraine (Mukat-
schewe).
71 Ahasver, der »Ewige Jude«, nach der Legende bis ans Ende der Welt zur ruhelosen Wanderschaft
verdammt, als Strafe dafür, dass er Christus verhöhnt, geschlagen oder ihm beim Gang zur Kreuzi-
gung eine kurze Rast versagt hat.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355