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Der Anfang der Wandlung Israels 207
»Warum soll aber Schu’al eigentlich nicht zum Heiraten taugen, Mutter ?«, fragte sie
schwach, leise. »Ich frage nur so, weil du davon redest. Er ist Beamter, er kann viel ver-
dienen, wenn er will.«
Die Alte lachte tonlos und hielt krampfhaft ihre Augen auf den Strumpf gerichtet,
an dem ihre mageren, olivenfarbenen Hände hastig arbeiteten. »Beamter ? Der ? Hast du
ihn nicht gesehen, wie er schreitet, wie er steht ? Gerade, den Kopf hoch, er blickt um
sich wie ein FĂĽrst. Hast du nicht gesehen, dass seine NasenflĂĽgel sich bewegen wie bei
einem Tier ? So hat vielleicht Simson ausgesehen, wenn er zu den Philistern niederstieg,
oder Joab88, wenn er die Feinde Davids jagte.«
Hanna errötete oft aus geringem Anlass. Jetzt aber, als sie ihre Mutter Eldad in den
ihr gewohnten Bildern schildern hörte, war sie purpurrot geworden. Die Greisin sah es
und lächelte mit der unbeschreiblichen Milde jener alten Frauen, deren ganzes Leben
in ihrer Familie ruhte, deren Haupt und Wurzel sie sind : »Du wunderst dich mein Kind,
dass ich einen jungen Mann so genau betrachte ? Glaubst du, ich sei schon so alt, dass
ich kein Auge habe, um schöne, junge Leute anzusehen ?«
Hanna nahm wieder die englische Zeitung, bĂĽckte sich darĂĽber und schien eifrig zu
lesen. »Aber wenn er so ist, wie du sagst Mutter …«, murmelte sie. »Dann ist er kein
Beamter, und sein Leben lang wird er kein Beamter werden«, antwortete die Mutter
trocken auf die unausgesprochene Frage. »Sieh dir die anderen Sekretäre der Sayuni an,
der Zionisten, die Buchhalter und Kassierer oder wie sie alle heiĂźen, und dann blicke
auf Eldad, und du wirst selbst wissen, ob dieser Mann Beamter bleiben wird, ob er eine
Familie erhalten kann.«
Hanna antwortete nicht. Die dunkle Röte wich allmählich aus ihrem Gesicht und
machte erschreckender Blässe Platz. Sie sah Eldad – sah ihn, wie Harzwi ihn geschil-
dert hatte, ehe sie ahnte, dass er je in ihr Leben treten werde. Sah ihn zu Pferd im
Ber gesschatten, die Verfolger auf Schussweite herankommen lassend, sah ihn auf er-
beutetem Tier durch das Feindeslager jagen – und sah ihn jetzt, mit federndem Solda-
tenschritt, mit wehenden, unbedeckten Haaren, Schreibmappe unterm Arm, ins BĂĽro
des Herrn Kazprin gehen.
Die alte Frau fühlte, jedes Wort, das sie jetzt spräche, würde nur den von ihr geschaf-
fenen Eindruck stören. So strickte sie schweigend weiter. Einige Minuten lang hörte
man nichts in der kleinen KĂĽche, in der Mutter und Tochter saĂźen, als das leise Singen
der Petroleumlampe und dann und wann das feine Summen eines Moskitos. Gähnend
legte sie schließlich ihr Nähzeug zusammen und stand auf : »Gute Nacht, Hanna ! Geh’
bald schlafen. Gute Nacht !« – »Gute Nacht, Mutter.« Hanna küsste in heißer Zärtlich-
keit die welken Wangen. »Gute Nacht. Ich komme bald nach.«
88 Joab : König Davids Neffe, brutaler Feldherr und Eroberer Jerusalems.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- AbkĂĽrzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- EinbĂĽrgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355