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Der Anfang der Wandlung Israels 225
Eldad dank Hannas Unterricht schon anfange, Englisch zu schreiben, sei seine Zukunft
im Büro gesichert.
Liebevoll sah er das Mädchen an. Die Spaniolin aber war mit ihren Gedanken an-
derswo. Es peinigte sie, Eldad von seiner Zukunft sprechen zu hören, während sie ihm
nicht erzählen durfte, wie seine Kollegen über ihn dachten. Es quälte sie, an Dr. Gut-
kowski denken zu müssen und an seinen Antrag. Es erregte sie, dass Gutkowski den
Mut hatte, sie zur Frau zu verlangen, während Eldad Woche um Woche neben ihr saß,
von Büroarbeit erzählte, ohne ein Wort von Liebe zu reden. Seit seinem ersten Gruß.
Trotz seinem ersten Gruß, dessen Erinnerung …
Plötzlich hob sie sich : »Gehen wir spazieren. Ich kann heute nicht im Zimmer blei-
ben. Gehen wir.« Eldad sprang auf, strahlte vor Freude. Hanna war sonst selten bereit,
mit ihm gemeinsam einen jener nächtlichen Spaziergänge zu machen, die die Jugend
des Heiligen Landes so liebt. Denn in Palästina gehört der helle, heiße Tag dem arbei-
tenden Bürger und der Pflicht. Das Reich der Jugend beginnt erst, wenn der kühle
Westwind feuchten Tau vom Meer her ins durstige Land trägt, wenn die strahlenden
Sterne am dunkelsamtenen Blauzelt leuchten, wenn die Alten ihre Buden und Werk-
stätten schließen und heimkehren. Dann holt der junge Arbeiter, der »Bachur«, seine
»Bachura«, geht mit ihr vor die Stadt hinaus, plaudert, wandert, küsst.
Hanna allerdings liebte es nicht, mit Eldad am Abend in die Bergfelder zu wandern,
an den vielen Türen des Montefiore-Viertels vorbei. Sie wusste, dass hundert Augen ihr
nachspähten, dass ein Dutzend alte Weiber am nächsten Morgen nichts Besseres zu tun
haben würden, als ihrer Mutter zum künftigen Schwiegersohn Glück zu wünschen und
sich nach dem Tag der offiziellen Verlobung zu erkundigen. Heute aber, heute konnte
sie die Enge des Hauses nicht mehr ertragen. Die dicken Steinmauern umschlossen sie
wie ein Gefängnis. Die ewig gleichen, grüngeflochtenen Strohsessel um den einfachen,
gelben Tisch ; die blaugestrichenen Wandschränke ; die Wassereimer neben dem großen
dunkelbraunen Tonkrug in der Ecke ; die gelben Primuskocher109 auf der großen Kiste,
die den Herd vertrat
– sie konnte diese Dinge plötzlich nicht mehr anschauen.
Diese paar Möbel hatte sie vor Augen gehabt, seit sie sich erinnern konnte. In dieser
Küche hatte sie gesessen, wenn im Nebenzimmer, in dem sie jetzt mit ihrer Mutter
schlief, ihr Vater, der Rabbi, Männer oder Frauen anhörte, die von ihm religionsgesetz-
liche Entscheidungen verlangten ; hier saß sie mit ihrer Mutter und hörte durch die
halboffene Tür zu, wenn die Vornehmen der kleinen Gemeinde zu Gast kamen, über
»Politik« sprachen, über die Jungtürken110 oder über den neuen Gouverneur oder über
109 Primuskocher : erster, 1892 in Stockholm von Frans Wilhelm Lindqvist und Johan Viktor Svenson
gebauter rußfreier Kerosinkocher.
110 Jungtürken : nationale Bewegung, die nach ihrer Machtübernahme 1913 das Osmanische Reich
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355