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246 C. Wolfgang von Weisl
lem auftauchten. Schmutz und Unordnung. Bausteine lagen am StraĂźenrand, verrostete
Petroleumkannen, Papierfetzen. Niemand kĂĽmmert sich darum, welchen Eindruck die
»Heilige Stadt« bei ihrem Eingang macht. Niemand sorgt dafür, dass Schönheit und
Ordnung den Fremdling empfangen, WĂĽrde und Anstand.
Ein einziges schönes Gebäude – das jüdische Spital der Strenggläubigen126, eine
Oase in der Steinwüste. Und dann kommen wieder die niedrigen, hässlichen Stiftungs-
häuser für die frommen Juden, die hier von Spendengeldern ihr Dasein fristen. Häss-
liche, schäbige Häuser. Ohne Gehsteig, hart an die Straße gepresst. Mit vergitterten
Fensterlöchern wie Gefängnisse – luftlos und raumlos. So leben hier die Frommen, die
Mehrheit Jerusalems. Fremd blickt Eldad auf die Männer in zerrissenen Kaftanen, auf
die Kinder, die in schmutzigen Hemden auf der StraĂźe spielen und sich hart vor dem
Auto jagen, auf die Frauen mit ihren verwelkten, verblĂĽhten Gesichtern. Fremd, aber
doch gerührt. Diese hässlichen, schwachen, armen Menschen – sie haben vollbracht,
was weder Römer noch Griechen, weder Kreuzfahrer noch Türken, weder Araber noch
Engländer erreichten. Sie haben Jerusalem erobert. Als ihre Väter und Mütter herkamen,
da beseelte sie ein einziger Wunsch : Sterben wollten sie an heiliger Stätte, begraben
wollten sie werden in der Erde Jerusalems, gegenĂĽber dem Tempelberg. Und diese alten
Pilger, die sterben wollten – sie hatten die Kraft, Söhne und Töchter in die Welt zu set-
zen, mehr, zehnmal mehr als ihre jĂĽngeren und gesĂĽnderen und reicheren BrĂĽder in Eu-
ropa. Sie vermehrten sich und füllten die Stadt. Armselig, unschön, schwach … ja. Aber
unbesieglich. Jerusalem ist jĂĽdisch geworden, durch diese Bettler und durch die Kraft
ihres Glaubens. Durch die Armen und Schwachen, ohne Schwert und ohne Lanze.
Und während Eldads Wagen langsam und lärmend hinter einer schwer beladenen
Ochsenfuhre durch die enge StraĂźe zwischen den Hausreihen der frommen Stiftung
einherfuhr, formte sich in ihm der neue Gedanke : Er sah den Weg, den Israel gehen
musste, um das Land zu erobern. Den Weg der Masseneinwanderung. Was in Jerusalem
gelungen war, musste im ganzen Lande möglich sein. Die Ärmsten der Armen, die
nichts zu verlieren hatten, die keine Geldmittel zur Auswanderung in ein anderes Land
mehr besaßen, die würden Palästina anfüllen von einem Ende bis zum andern. Sie !
Die Ärmsten muss man rufen, die Nichtorganisierten organisieren ! Die am wenigsten
vom Leben erwarten, das sind die besten Pioniere … Wo hatte Eldad das gelesen ? Bei
Herzl ? Gleichviel.
Morgen wird er sich sofort Material, Statistiken verschaffen. Ziffern ĂĽber die Lage
der Juden in Europa, Russland, Jemen, Marokko. Er wird Tag und Nacht arbeiten, um
den neuen Plan auszuarbeiten. Den Plan zur Eroberung Palästinas durch Millionen von
Armen. Kazprin wird ihm helfen, das ist Sozialismus der Tat. Das jĂĽdische Proletariat in
126 Shaare-Zedek (siehe Sachregister, S.Â
352).
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- AbkĂĽrzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- EinbĂĽrgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355