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Der Anfang der Wandlung Israels 277
Riesen hingestellt. Verwittert sind die ungeheuren Felsblöcke, glatt und schlüpfrig vom
Regen und den Küssen zahlloser Generationen, die diese Steine küssen und streicheln
und lieben, wie Kinder die gütigen Hände einer alten Mutter lieb haben.
Die Männer dort in der anderen Ecke, sie beten jetzt laut. Mit allen Gliedern be-
ten sie, wie es im Psalm heißt : Alle meine Gebeine loben den Herrn ! Ja, aus ganzem
Körper schreien sie das Dankgebet ob der Wunder, die der Herr getan hat, damals, zu
jener Zeit, zur Mauer empor, die schon so viele Gebete gehört hat und so viel Dank
und so viele Klagen ! Sie zittern, sie krampfen ihre Hände zusammen, schlagen mit den
offenen Handflächen an die Mauer und umfangen die Kanten der Felsen, als wäre in
ihnen Bürgschaft für Erfüllung ihres Gebetes, ihres ewigen, unveränderlichen Gebetes :
»Nach Jerusalem, DEINER Stadt, kehre zurück voll Erbarmen, wohne in ihr wie DU es
verheißen, baue sie auf, bald, in unseren Tagen ! Erbaue Jerusalem !«
Frau Asriel hörte nicht den Männern zu. Dort, wo zwischen zwei der riesigen
Quadern ein tiefer, schmaler Spalt klaffte, presste sie ihre Lippen an das uralte Ge-
stein, flüsterte mit geschlossenen Augen ihre Gebete, Wort für Wort, in der ehernen
Ordnung, die vor zwei Jahrtausenden Gelehrte des Sanhedrin164 spätesten Geschlech-
tern bestimmt hatten. Wort für Wort tropften die heiligen Verse aus ihrer Kehle wie
Schluchzen. Sie wusste gar nicht, was sie sprach. Wusste nur, dass sie ihre ganze, wunde,
traurige Seele hier ausschütten müsse vor dem Thron des Hochheiligen. Wusste, dass
hier in dieser Spalte sie ganz nahe sei dem Engel des Gebetes, der die Lobpreisungen
der Gläubigen auf seine weißen Schwingen nimmt und sich mit ihnen aufschwingt zu
den Stufen des Thrones.
Ihr war so weh ums Herz. Sie war so allein, seit Hanna mit Eldad verlobt war. Sie
brauchte Trost und Rat ; sie war am Grab ihres Gatten gewesen und hatte dort nicht
Hilfe gefunden, jetzt suchte sie sie an der Klagemauer. Wie froh wäre sie, wenn der
Russe Hanna verließe, nichts Gutes kann aus dieser Ehe für das Mädchen entstehen,
aber darf sie, die Mutter, dem Glück ihrer Tochter im Wege stehen ? »Menachem Men-
del, mein Mann, du weißt besser als ich, was man tun muss. Hanna liebt ihn mit reiner
Liebe. Nichts Sündhaftes ist an ihr, ich sage es dir hier an der heiligen Stätte. Sie liebt
ihn, und ich darf ihr nicht widersprechen
– aber nichts Gutes kommt heraus ! Er ist ein
Gibbor, ein Held, kein Hausvater, kein Gatte. Hilf mir, bitte für mich, dein Weib, dort
im Paradies an den Füßen des Thrones. Der Heilige Name sei mit mir, dass ich mein
Amt bei dem Kind gut erfülle. Er berate mich und stärke mich und helfe mir.«
Immer leiser betete die Frau aus ihrem Inneren heraus, während ihre Lippen die ge-
wohnte Formel des letzten Segensspruches wiederholten. »ER, der Frieden schafft in
164 Sanhedrin : »Hoher Rat« (griech. Synhedrion), höchste jüdische religiöse und politische Instanz,
oberstes Gericht.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- Abkürzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- Einbürgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355