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Der Anfang der Wandlung Israels 311
ernannt. Sagen Sie, ob das darnach aussieht, als ob die Araber des Heiligen Landes
unterdrückt werden würden ?«
Der Oberkommissär, schlank und hochgewachsen, stand auf, trat an eines der hohen
gotischen Fenster des Schlosses, das vom Ölberg aus Jerusalem beherrschte – eine Stif-
tung Kaiser Wilhelms II., die jetzt an die Engländer verpachtet war.192 Er zeigte dem
Ă„gypter die Heilige Stadt, wie sie mit ihren TĂĽrmen und Kuppeln sich tief unter ihnen
ausdehnte. Weiß und rein hob sich das majestätische Geviert des Tempelplatzes aus
dem Häusergewirr. »Sehen Sie diese StadtÂ
– die Heiligste aller Stätten der Welt«, sagte
der englische Minister, der zugleich Jude war, aber weniger Jude als Brite. »Sehen Sie
diese Stadt, Prinz ! Voll von Schmutz und Staub, Unrat und Armut, Bettelei und Mala-
ria. Diese Stadt, in der mehr neugeborene Kinder sterben als in Indien, diese Stadt ohne
Trinkwasser und ohne Bäume, ohne Anmut und ohne Bequemlichkeit. Eine Schande
und ein Vorwurf für jeden Gläubigen, ob er nun zum Kreuz oder zum Halbmond oder
zur Klagemauer pilgert, um Gott zu suchen. So haben wir das Erbe der tĂĽrkischen
Wirtschaft übernommen. Ich lade Sie ein, in zehn Jahren wiederzukommen – Sie wer-
den Jerusalem nicht wiedererkennen.«
Georges Farughi hatte nicht die geringste Absicht, mit dem Oberkommissär zu dis-
kutieren. Seine Aufgabe bestand darin, sich mit jedermann gut zu stellen. Wozu sollte
er den jüdischen Schwärmer reizen, umso mehr, als er wusste, dass des Oberkommissärs
eigene Beamte anders ĂĽber die Lage dachten als Seine Exzellenz. Immerhin durfte er
nicht schweigen, durfte sich nicht dumm stellen – auch das war gegen seinen Auftrag.
Vorsichtig stimmte er also zu ; es sei gewiss bewundernswert, was Seine Exzellenz in den
wenigen Monaten fĂĽr das Land getan habe. Aber Eines scheine Sir Herbert zu ĂĽber-
sehen, wenn er, FarughiÂ
– ein AusländerÂ
–, sich eine Bemerkung erlauben dürfe. »Wenn
your Excellence eben sagten, in zehn Jahren wĂĽrde man Jerusalem nicht wiedererken-
nenÂ
– dann ist es gerade das, was die Araber nicht wollen und wovor wir alle, die das alte
Jerusalem lieben, Angst haben.«
Der Oberkommissär nickte einige Male mit leicht gerunzelter Stirn. Er verstehe
diesen Standpunkt. Aber niemand kann der Zeit Einhalt gebieten, niemand. Und die
moderne Zeit muss eben auch zwischen Jordan und Meer einziehen. Es sei besser, sich
damit abzufinden.
192 Auguste-Viktoria-Hospital auf dem Jerusalemer Ă–lberg : gestiftet 1899 vom deutschen Kaiser
Wilhelm II. nach seiner vorjährigen Palästinareise, benannt nach seiner Gemahlin Auguste Victo-
ria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg (1858–1921), eingeweiht 1910, entworfen
und gebaut von dem Berliner Architekten Robert Leibnitz (1863–1921), imposante, um einen
Innenhof gruppierte, mehrgeschossige VierflĂĽgelanlage im neuromanischen Stil mit hochaufra-
gendem Turm, der einen grandiosen Ausblick über die ganze Stadt gewährt, seit 1920 Sitz des
britischen Hochkommissars Sir Herbert Louis Samuel.
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- AbkĂĽrzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- EinbĂĽrgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355