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312 C. Wolfgang von Weisl
Georges war wirklich ein Narr, wie sein Vater ihm vorgeworfen hatte. Er widersprach
nochmals. »Sie irren, Sir Herbert. Davor haben wir Angst, und dagegen werden wir uns
wehren. Und glauben Sie nicht, dass die Araber des Landes dabei allein stehen. Erst
gestern klagte Seine Seligkeit der griechische Patriarch mit Tränen in der Stimme über
die entsetzliche Unsittlichkeit, die in der Heiligen Stadt eingerissen sei, seit die Israeli-
ten hier einwandern. Ich meine die Zionisten«, verbesserte er sich.
Der Oberkommissär wurde eisig kühl : »Unsittlichkeit ? Ich weiß, dass die britische
Administration sofort und als erstes die Lasterhöhlen schließen ließ, die vorher in Jeru-
salem bestanden haben. Und dass wir ein gutes Hundert Mädchen – und zu vier Fünf-
teln waren es keine Jüdinnen, mein Prinz ! – ausweisen ließen. Von welcher Unsittlich-
keit spricht Seine Seligkeit ?«
Georges machte eine entschuldigende Handbewegung : »Oh, nicht das. Aber er ist
empört über die Rücksichtslosigkeit der neuen Einwanderer. Vor dem Krieg gab es das
nicht, dass man in der Stadt getanzt hätte, in der unser Heiland gestorben ist – heute
gibt es ein Kaffeehaus mit Tanzdiele zu FĂĽĂźen der Stadtmauer. Unter den Steinen der
Mauer der Heiligen Stadt. Und nie sah man früher Männer und Frauen Hand in Hand
gehen. Heute – Eure Exzellenz weiß es selbst, wie die neuen Einwanderer zusammen
spazieren gehen, öffentlich und ohne Rücksicht auf die Moral der Eingeborenen.«
Georges hatte das mit einiger Wärme vorgebracht, dann besann er sich, lächelte
verbindlich und überlegen : »Sie verstehen, Sir Herbert, ich rede nicht von meinem
Standpunkt aus. Ich bin Europäer und bin freigeistig erzogen. Aber auch ich muss
sagen, es wĂĽrde mich schmerzen, wenn die Heilige Stadt und das Heilige Land mo-
dern werden solltenÂ
– so wie alle Städte der Welt. Wenn ich asphaltierte Straßen, gute
Wasserleitung und städtische Parkanlagen haben will, fahre ich nach Paris oder«Â
– mit
einer knappen Verbeugung – »nach London« : »In Jerusalem will ich den Geruch des
Altertums haben. Die Schatten zweier Jahrtausende, dreier Jahrtausende. Und nicht
die Kopie Europas.«
Misstrauisch sah Sir Herbert den jungen Mann an. »Sagen Sie mal, Prinz, haben Sie
darüber mit dem Gouverneur von Jerusalem193 gesprochen ? Der ist nämlich ganz Ihrer
Meinung, und wir streiten uns oft darüber.« Er stand auf, läutete dem Adjutanten, gab
ihm leise einen Auftrag. »Aber trösten Sie sich, Prinz. Es wird uns gelingen, das ehr-
wĂĽrdige Altertum zu erhalten und doch an seine Seite das siegreiche Neue zu setzen,
Ost und West zu versöhnen, Vorzeit und Zukunft. Was in Indien vielleicht nicht ganz
gelungen ist – in Jerusalem wird es glücken.« Der Adjutant kam wieder, brachte eine
Mappe mit Radierungen Jerusalemer Motive. Der Hohe Kommissär schrieb eine Wid-
mung hinein : »Wenn Sie nach Kairo zurückkehren, zeigen Sie diese Bilder als Zeichen,
193 Ronald Storrs (siehe biographische Daten, S.Â
345).
Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
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Wolfgang von Weisl
Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
Erlöser - Der Anfang der Wandlung Israels
- Title
- Wolfgang von Weisl
- Subtitle
- Schauspiel und Roman im Zeichen des modernen politischen Zionismus
- Editor
- Dietmar Goltschnigg
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21056-6
- Size
- 17.4 x 24.5 cm
- Pages
- 362
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 7
- AbkĂĽrzungen und Zitierweise 11
- A. Kontexte, Aspekte, Kommentare 13
- Erlöser 13
- EinbĂĽrgerung Wolfgang von Weisls in British Palestine 22
- Arnold Zweig: De Vriendt kehrt heim … 23
- Der Anfang der Wandlung Israels 28
- B. Wolfgang von Weisl 51
- Erlöser. Ein ernstes Spiel von letzten Dingen 51
- C. Wolfgang von Weisl 143
- Der Anfang der Wandlung Israels. Roman 143
- D. Anhang 335
- 1. Zeittafel 335
- 2. Biographische Daten 341
- 3. Sachen, Begriffe, Orte, Glossar 346
- 4. Bibliographie 353
- 5. Personenregister 355