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Tagebuch 1923
19.VIII.
Reisetag. Autobus Eisenbahn, die Schweden in Linz. Abends […] in einer regenlosen
Stunde Pöstlingberg. Die Stadt ganz rot, Himmel grau u. schwarz, dazwischen oran-
gefarbene Windstreifen. Ich war in der früh sehr nervös, bis wir im Auto saßen, dann
stellte ich mich ganz auf meine Buben ein, die beide sehr lieb waren ; Anderl ganz be-
obachtendes Kind, Stoffel großer Bruder u. Reisekavalier – und auf beides sehr stolz.
Wie lange werde ich noch das Nicht- u. Nichtschlafen aushalten können ? !58
20.VIII.
Heut sollen wir also per Schiff weiter ! Bei diesem Wetter scheint es mir eine ganz
verfehlte Sache zu werden
… Schnürlregen*.59
21.VIII.
Ja Schnürlregen. Den ganzen Tag hat es gespritzt. Übervoll, dichtgedrängt, gesessen,
gestanden. Kalt, von überall hat es durch die Plachen** gespritzt. Anderl bald müd
vom Schauen u. fahren auf meinem Schoß gelegen, geschlafen. Von Klosterneuburg
ab, zum Aussteigen eingepreßt gestanden, wachsende Erregung der Kinder, Nach-
hausekommen nach so vielen vielen Wochen, die bekannten Gegenden, der Papa
…
Laotses Worte im Ohr : Sie alle gehen nachhause. Hans u. Alf sind dann nach d.
Nachtmahl um die Mädeln nach Hütteldorf gefahren, diese sehr munter angekom-
men. Endlich, endlich gut geschlafen. Alma hat dem Dr. Bach von mir erzählt (All-
mächtiger bei d. Arbeiterzeitung u. an d. Theatern) u. ein Gedicht (Taschentuch) ge-
zeigt. Dieser hat es gleich am nächsten Tag ohne Namen (u. leider auch unkorrigiert)
als Feuilleton in d. Arbeiterzeitung gebracht. Eine Zeile („damals hatte ich noch ein
Mädchen u. eine Köchin“) ist gestrichen, wahrscheinlich um das ehemals gutbürger-
liche Milieu zu unterdrücken ! Mir ist das eigentlich sehr sehr ekelhaft. Hans hat mit
Bach telephoniert, er will mit mir reden, noch andre Gedichte bringen, Honorar etc.
Ich muß ihn heute antelephonieren u. habe nichts wie Widerstände.60
23.VIII.
Vormittag bei Dr. Bach. Ich hab ihm „Sie ist die Jüngste …“ und „Straßenmusikant“
gebracht. Er will Skizzen, Novellen. Ich erzählte ihm von meinen Mißerfolgen bei
den Theaterdirektoren, er will innerhalb 8 Tagen meinen Todessprung lesen. Ich
glaube, er ist ein großer Faktor im Wiener Bühnenwesen, wegen der Arbeiterorgani-
sationen, die immer [ein] paar Abende aufkaufen. Ich habe, wie immer wenn etwas
nicht auf d. 1. Anhieb gelingt, gar keine Hoffnung. Gestern abends hab ich noch dem
Hans meine Loferer Gedichte vorgelesen, es war aber wieder eine traurige Stunde.
* anhaltender Regen
** Plane
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien