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Tagebuch 1923
Stadt leben als nur in Wien – das hören wir halt gerne … Graphische Blätter ange-
schaut, u. a. hat ihm die Radierung mit d. beiden Mädchen der Funke sehr gut ge-
fallen. Ja richtig, bei dieser war ich heut Nachmittag. Es ist eine furchtbare aber ganz
stille und einsame Tragödie, wie diese Frau mit ihrer Kunstidee und ihrem Körper
ringt bis ins Maniake und Hans hat ganz recht, wenn er sagt, logischer Weise müßte
sie ermordet werden, das wär der einzig motivierte Schluß dieses Lebens.
–
15. September
Alma will ihr Portrait von OK verkaufen, am liebsten der Galerie, um 2000 Dollar.
Mir tut das sehr weh
– heut hat sie zum zweitenmal darüber an Hans geschrieben
…
16. September
Heut ist der Geburtstag von Christl Kerry
– sie ist meine direkteste Kousine und ich
weiß kaum, wo sie lebt. Von meinen ebenso nah Verwandten väterlicherseits, weiß ich
nicht einmal die Namen
…91
Gestern Nachmittag war der jüngere Holländer aus dem Bernatzikhaus bei uns
und hat so viel Freude mit dem frühen OK gehabt u. mit den letzten Ehrlich-
blättern. Die eine Zeichnung vom Anderl hab ich ihm um 300.000 K[ronen] ver-
kauft (stehender Akt) – er holt sie sich am Dienstag oder Mittwoch, will sie dem
anderen Holländer (Gendringen) schenken. Dann Puppenspiel von dem Ehepaar
Fränkel-Rothziegel in d. Pyrkergasse 1 u. zw[ar] Faust nach dem Kralikschen
Text – es hat aber weder d. Erwachsenen noch d. Kindern Freude gemacht. In
einer der letzten Bänke saß ein Idiotenbub, der kaum gehen kann und tierische
Laute während d. Stückes u. d. Pausen ausstieß. Heimweg mit Ottmann u. Ehr-
lich
– der Burgl auf der Hohen Warte
– auf die Caféhausböschung begleitet, da sie
„einen Wunsch“ hatte. Heut früh ist Hans schon um 6 h aus dem Haus, mit den
englischen Studenten in die Wachau. Wir haben Burgls Geburtstag heute „voraus-
gefeiert“ ; großer Schatten, da Boby Münzberg (Sommergast aus Lofer) für heut
nachmittag absagte.92
17.IX.
Gestern nachmittag ging es mit Maria Luithlen gelegentlich so laut zu, daß ich ein
wenig aus der Haut gefahren bin. Dann aber einsamer Spaziergang – alles wieder
gut
…
Hans gegen 11 Uhr zurück, sehr vergnügt von dem Ausflug
– in Dürnstein Volks-
fest mit Tanz, heiter ohne Roheit. Heut früh meine Granaten zum Schätzen ge-
schickt – trag sie nie, mag sie nicht. Besser was andres. Mamas Rahmen paßt glän-
zend, sodaß Ehrlich mein Bild gut einfügen kann, wenn’s einmal trocken ist. Es sieht
unter Glas wundervoll aus. Die Hände sind jetzt ganz ganz fertig – die doch, solang
sie noch naß waren, ganz offen waren. In der Albertina hat mich Stix wieder einmal
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien