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Tagebuch 1924
oben zu Honoratioren und Russen, nach unten Wiener Künstler und Freunde. In der
Mitte Hans vis-à-vis von mir. Ich zwischen Zaloziewsky, Steiner, Kaschnitz u. Jung-
nickel, Hörweite Dr. Markowitz, Rathe u. s. f. Energisch mit d. letzten Elektr[ischen]
aufgebrochen. Aber doch erst nach Mitternacht ins Bett
…45
Am Samstag Fest für Laske (50 jähr. Geburtstagsnachfeier) ; das Ehepaar weiß
gar nichts davon, nur die Nichte ist unterrichtet. Das Atelier faßt genug Menschen.
Ich will als Herbst gehen, d. h. als Wein, d. h. als Döblingia*, Hans als Hauer**. Die
Huldigung vom 19. Bezirk. Heute gehe ich den Stoff kaufen (als Sommerschlafrock
verwendbar).
5.III.
Ich war gestern beim Dramaturgen des Volkstheaters u. wollte wenigstens ein
(Schreibmaschinen) Exemplar von meinem „Todessprung“ zurückhaben (eines war
d. Direktor durch Waniek u. eines durch Dr. Bach überreicht worden). Es dürfte
sich aber schwerlich auch nur eines auftreiben lassen. Sehr verstimmt. Dann hab ich
einen herbstlaubfarbenen Crêpe-de-Chine-Stoff gekauft, der sehr schön ist. Abends
Mahlau aus Lübeck mit Frau (ohne Eindruck) und Kaschnitz, dem ich meinen
schwarzen Plüschhut gab, den er in einen jesuitischen umkrempeln will
…46
Heut vormittag war Rapaport da u. hat mir zur Versöhnung weiße duftende Blu-
men gebracht. Zur Versöhnung, weil er so lange nichts von sich hat hören lassen. Er
war sehr lange da u. das Gespräch ist (wie immer mit einem Russen) sofort ins Gott-
suchen übergegangen. Dann aber über Produktivität (künstlerische Produktivität) ins
ganz Persönliche. Ich glaube, dieser Mensch sieht mich sehr stark (nicht daß ich stark
wäre, aber empfindet stark mein Wesen). Er ist sehr viel mit OK zusammen, der jetzt
ein Selbstportrait mit einer Frau und dem alten Plakat (von OK) im Hintergrund
malt. Rapaport findet die Farbe zu meinem Herbstgewand ganz mein Wesen sym-
bolisierend ausgesucht : abgeschlossen, ausgereift, beruhigt. Ich zeigte ihm die rote
Kugelkette, die ich dazu tragen will und er findet auch diese Rückerinnerung, diese
konzentrierte Erregung charakteristisch. Wie mich doch die Gedichte nackt vor die
Leute stellen.
– Ich bin so erniedrigt. So erniedrigt. Ach ja.47
Freitag, d. 7.III.1924
Gestern Watteauvortrag bei Halles, ich kam spät u. hatte die ganze Hineinfahrt mit
Frau Dr. Harabath Witze gemacht. Wurde während d. Vortrags so furchtbar müde,
daß ich kaum mehr sprechen konnte. Zuhause kam Brockhausen u. brachte mir die
Legende zurück und ein Gedicht dazu, das er 1916 auf den vom Tod erweckten La-
zarus gemacht hat. (Mein Gott, wenn die Leute eine Pointe haben, so machen sie
* Personifikation von Döbling
** Winzer
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien