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Tagebuch 1924
25.IV.1924
Am Mittwoch war ich tagsüber für mein Bild im Atelier bei Ehrlich, er war sehr flei-
ßig u. ich habe mich ausgeruht. Gegen Abend sind wir d. Donau entlang nachhause
gegangen u. er hat sich den schnurrbartlosen Hans angeschaut ; der ihm sehr gut ge-
fallen hat. Gleichzeitig die Lithographie gebracht, mehrere Abzüge des 2. Zustandes
vom Stein, der noch viel besser ist. Am 23. bin ich schon in der Früh sitzen gewesen,
nachher Kurs u. bei Lili und Lutz, die gestern (22.) angekommen waren. Hans holte
mich dann (überraschend) ins Raimundtheater ab, wo das Stück „6 Personen suchen
einen Autor“ in der wirklich über alle maßen eingreifenden Bearbeitung von Direktor
Beer gegeben wurde. Sicher hat durch diese Bearbeitung das Stück sehr gelitten, mir
ist es aber lieb, daß alles drin Tiefliegende dadurch noch tiefer liegen bleibt. In der
1.
Rangloge, die uns Bach verehrt hatte, saßen außer uns noch der „Oberrat“ Reuther
(vom Städt[ischen] Mus[eum]) u. seine Frau. Gestern hab ich vormittag Besorgungen
gemacht, die Ausstellung des Malers Jung aus Salzburg (Hotel Europens Sohn) ge-
sehen (Holbein Galerie am Franz Josefskai), mein Gott 22 Jahre, gewiß Begabung,
Idealismus
– aber
–78
Mittag bei Mama, Lutz hat mich untersucht. Die Senkungsgeschichte möchte er
(meinetwegen, Nervenzustand) nicht operieren, da sich im Uterus etwas vorzuberei-
ten scheint, was besser zusammen dann behoben werden könnte. Das hat aber noch
paar Jahre gewiß Zeit, vielleicht hebt sich dann mein Nervenzustand. Gegen diesen
muß ich entschieden etwas tun. Die vielspaltige Beschäftigung schadet mir. Ob ich
nicht das Dichten aufgeben wolle
– ?
Dann beim Figdor, der dem G. E. die beiden Zeichnungen abgenommen hat (jede
um 1 Million), damit ich sie nicht zahlen muß, mir aber die Blätter nicht verehrt „aus
weiblicher Eitelkeit“ und „sie sind so überlebensgroß“ – und mich mit einer lächerli-
chen Interieurphotographie abgespeist. Weiter dann bei Lederer zum Tee u. Sachen
angeschaut. Abends Hans in der OK Vorlesung, ich im Bett, das mir schon sehr not-
tat.79
27.IV.1924
Gestern bin ich tagsüber, noch immer sehr müde, im Streckstuhl gewesen u. bin mit
viel Kleinlichem innerlich fertig geworden. Nachmittag dann bei Frapparts, geen-
det bei Lampl, da Stoffel bei d. Schottenpassion, Hans Kameradschaftsabend hatte.
Eine Karte zu Pygmalion hab ich der Therese gelassen. Schließlich bei Lampls so viel
Leute beisammen, daß ich davonlief. Zufuß in die Stadt, einsam heraus. Frühlings-
melancholie.80
30.IV.1924
Lutz ist hier sehr schwer krank gewesen, eigentlich schon krank gekommen, hier aber
hohes Fieber ausgebrochen ; trotzdem gestern fiebernd weggefahren. Lili sehr beun-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien