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Tagebuch 1924
umformen lassen, bekam aber d. Bescheid, daß es vollkommen ausgeschlossen sei, da
der größte in Wien verkaufte Hut 62 cm Hutweite besitzt, mein Kopf aber 66 cm !
Entsetzlich. Ich steigerte meine Depression darüber indem ich in d. Künstlerhaus zur
offiziellen Frühjahrsausstellung ging u. nur die Portraits von E. Veith, Quincy Adams
(pro Stück 70 Millionen), Krausz, Mandler u. s. w. ansah. Es waren auch andre Bilder
da, aber die Porträts hatten doch wenigstens ein gewisses persönliches Interesse. Ich
glaube, es war auch eines vom Musiker Friedmann da, in einer leichten angeheiterten
Münchner Manier, die in dieser Umgebung noch ganz halbwegs ging. Der Oberstock
bringt den Kitsch jenseits der Leitha. Nachher Albertina (die Dr. Popp für Dienstag
eingeladen), Artaria (die liebe österr[eichische] Aquarellistenausstell[ung] angeschaut,
die bei Boerner versteigert wird), Einkäufe, Mittag zuhause. Die Kinder haben mir
blühende Zweige auf den Schreibtisch gestellt.83
3. Mai
Am Nachmittag gestern hat Hans Kirstein und mich 2 Stunden warten lassen. Ich
war schon nahe daran aus der Haut zu fahren. Jener ging dann ins Theater (1. Abend
der Straußwoche) und ich ging nach dem Nachtmahl zu Dr. Schwarzmann, Kruger-
straße 17, wo eine Uraufführung von Schönberg’s Serenata war. (Singstimme Jerger).
Mir war es sehr unangenehm. Hierauf Pierrot Lunaire (Sprechstimme Gutheil) hat
mir schon einen viel stärkeren u. angenehmeren Eindruck gemacht, ich muß aber zu-
geben, daß ich die Instrumente nur als Begleitung empfand u. ausschließlich auf die
Sprechstimme hörte. Dieses Zwischenstehen zwischen Sprechton u. Gesang, wenn es
so wundervoll gemacht wird wie von d. Gutheil ist eigentlich das, was mir von jeher
als das Ideal vorschwebt (z. B. für meine Gedichte). Es waren wunderschöne u. schön
angezogene Leute da. Frau Helene Berg erzählte mir, daß sie einen sehr beglückten
Brief von d. Alma bekommen habe, sie sei schon ganz in ihrem Haus in Venedig ein-
gelebt. Neben mir saß Stiedry, den ich seit 1918 nicht gesehen hatte. Er trägt seine
Würde als neuer Kapellmeister d. Volksoper mit der gewohnten Unverschämtheit, die
mir doch sympathisch ist. Fannina Halle u. Rety saßen auch nicht weit von uns, als
plötzlich Georg Halle u. Frau auftauchten, denen es gleich unangenehm war ; den
Höhepunkt dieser Gegenpolbewegung machte Ernys Erscheinen auf d. Bildfläche,
der doch zu Frau Halle durch den Vorgänger bei seiner Frau, Herrn Wiener, antiver-
wandtschaftliche Beziehungen hat. Erika Wagner, eine stattliche Frau, hab ich nach
d. Zeichnung von Tischler erkannt. Alle Frauen hatten unsagbar dicke Arme. Das ist
doch sonderbar. Als d. Sandwich gereicht wurden, verzogen wir uns. Hans merkte auf
d. Stiege, daß er kein Geld bei sich habe u. borgte sich bei Bohumil Kokoschka eines
aus (er war der erste, den er in d. Gedränge fand). Um ½ 2 schon geschlafen. Sehr
zufrieden, den Eindruck Kirstein durch d. Eindruck Schönberg vertrieben zu haben.
(Teufel mit Belzebub verjagen). Während Hans sich Geld ausborgte wartete ich un-
ten im Hausflur. Da ein jüdischer Hausmeister unten stand, erfuhr ich alles im Hause
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien