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Tagebuch 1924
Wasser von großer Tiefe u. Klarheit. Bäume u. Büsche wachsen und stehen unter dem
Spiegel. Rätselhaft. Den Weg hinauf Stände mit Verkaufsgegenständen unmöglichs-
ter Art, Cafés, Coiffeurs etc., alles auf das Paar Petrarque et Laure orientiert. Hans
hat natürlich ein Sonett gedichtet (für Steiners), mir ist nichts eingefallen. Abends
nach Arles gefahren (Viel Spaß mit einem Hund im Coupé). Heut vormittag Be-
sichtigung von Arles, die ersten ganz großen kunsthistor[ischen] Eindrücke (St. Tro-
phime Portal und Kreuzgang) u. die landschaftlichen des durchsonnten Theaters u.
der Arena. Spaziergang nach Les Alyscamps, die einzigartige Gräberstraße zwischen
den einsamen Platanen. An Dvorak gedacht. Nachmittag in Montmajour (4 klm zu-
fuß). Schöne Ruine, kleine Steinkapelle geschlossener Wirkung. Angst vor d. Nacht,
da das Bett schlecht.131
4.X.
In der Nacht furchtbares Gewitter. Heute den ganzen Tag Regen, gelegentlich Platz-
regen. Abfahrt früh um 8 nach Tarascon, Stiegenabstieg zur Kleinbahn nach St.
Rémy
(„Je vous attendais“ rief uns der Schaffner zu und ließ erst nachdem wir eingestiegen
waren, den Zug abfahren). Dort nahmen wir ein Taxi u. fuhren in die leicht über-
grünten Kalkberge nach Les Baux. Große Stadt, berühmter Minnehof, im 14. Jh. ent-
völkert, im 17. verlassen. Jetzt nur mehr etwas über 100 Menschen dort. Die Stadt
schon damals z[um] T[eil] in die Felsen hineingebaut. Weiße Felsen, zersägter Stein,
Riesendimensionen, aufragende Mauern, laute Klage. Unten die Ebene, erst Ölbäume
in roter Erde ; dann weiter endlos vielleicht ins Meer ausklingend. (Eine Schlucht soll
Dante zur Bolgengliederung angeregt haben). Auf d. Rückfahrt bei d. Triumphbogen
und Grabmal d. Julier (1. Jh.) in St. Rémy ausgestiegen. Viel an Mantegna gedacht
(Tempesta), in St. Rémy dejeuniert, nach Nîmes gefahren. Hier sehr liebes Hôtelzim-
mer, in dem alles da ist, nur die Sonne fehlt. Dafür Regen ohne Ende. Spaziergang
durch die Stadt mit besonderer Berücksichtigung der Magazins, die Rideaux gespannt
haben. Arena – von außen. Maison Carré auch von innen (kleine Sammlung von An-
tiken u. Münzen), da ganz intakter, immer gedeckter ! Tempel (Pseudoperipteros mit
Anten vorne). Romanische Kirche von 1830 mit Fresken von Flandrin […].132
9.X.
Am 4. Abend waren wir noch im Theater. „Veronique“ von Messager, muß wohl um
1860 geschrieben sein, anfangs unsagbar fad, dann ganz nett, sentimental – vor-
Bizet ? Am 5. früh Besichtigung von Nîmes bei beginnender Sonne. Arena, Theater,
trostloses Museum. Noch am Vormittag nach St. Gilles, wo wir den kurzen Aufent-
halt zu einem Run aufs Kathedralenportal benützten. Proletarierdorf, vor uns Zir-
kusleute durch Musik zum Spiel rufend, die Kathedrale verzweifelt einsam in dieser
Umgebung. Weiter mit d. Eisenbahn nach Aiguemorte, wo natürlich Jahrmarkt war.
Die quadratische Stadt rings von Mauern umgürtelt, über die wir einen Rundgang
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien