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Tagebuch 1924
Wie den anderen konservativen Kommentatoren war Seligmann die Nolde-Ausstellung
(11.3.–8.4.1924) ein besonderer Dorn im Auge : „Ein sogenannter ‚Sachverständiger‘ von
heute, der den groben Ulk von Nolde, der jetzt im Künstlerhaus zu sehen ist, nicht nur
ernst nimmt, sondern bewundert, kann doch für einen Knaus oder Pettenkofen unmöglich
irgendwelches Verständnis haben, ja er muß, wenn er das eine für Kunst erklärt, das andere
für Schmarrn halten.“ (Seligmann 1924b, 3 ; zu diesen Vorgängen siehe Caruso [noch nicht
ersch.] ; TB 1924, 14.5.) Tags darauf erschien an gleicher Stelle unter dem Titel „Künstler
und Kunsthistoriker“ (TB 1924, 31.1., 6.5.) eine Solidaritätsbekundung der Wiener Künst-
lerschaft mit Redakteur Seligmann : „Nur die Form dieser Artikel erscheint uns zu milde
und zu diplomatisch, weil sie geeignet ist, über die Größe des Schadens hinwegzutäuschen,
die unserem gesamten Kunstleben durch das Ueberhandnehmen des Einflusses der Kunst-
historiker droht […].“ (N.
N. 17.4.1924.) Unterzeichnet wurde die Note von 20 Künstlern
der wichtigsten Künstlervereinigungen. Der Präsident der „Künstlergenossenschaft“ wi-
derrief kurz darauf seine Unterschrift, da er „selbst Mitglied der Tauschkommission“ war
(N. N. 25.4.1924).
„Besonders gehässige Äußerungen sind charakteristischer Weise seitens solcher gefallen,
die
– gleich Nolde selbst
– den Beruf des Malers ausüben“, erwiderte HT in : „Wer ist Emil
Nolde ?“ (Tietze 1924i.)
Ein Werk ETCs, „Jonathan“ betitelt, hat sich im Nachlass nicht erhalten.
76 Ziel von ETCs Feuilletonreihe war es, jene Wiener Sammlungen vorzustellen, die nun
per Gesetz zweimal monatlich von einer interessierten Öffentlichkeit an Ort und Stelle
besichtigt werden konnten. Hatte der Sammler sich per Notariatsakt zu dieser Öffnung
verpflichtet, durfte auch in den damaligen Notzeiten kein überschüssiger Wohnraum durch
das Wohnungsamt der Stadt Wien an Bedürftige untervermietet werden. Denn, so ETC :
„Der Sammler muß eine geräumige Wohnung haben, um seinen Kunstbesitz würdig auf-
stellen zu können ; kein Untermieter darf diese Freizügigkeit stören. Das Mietamt ist da-
rum der Feind, das Denkmalamt der Verteidiger des Sammlers.“ (Tietze-Conrat 1924b.)
Teil 1 der Serie war der Sammlung Figdor, „der bedeutendsten und ältesten“ Sammlung,
gewidmet. Diese sei schon immer „und in einem weitaus größeren Ausmaß, als es die neue
Vereinbarung bestimmt – dem Publikum zugänglich gewesen, stand immer schon in libe-
ralster Form jeder Forschungsarbeit offen“ (Tietze-Conrat 1924b) ; ETC zu Figdor siehe
TB 1923, 5.7. Ob der zweite Teil der Serie, der der Sammlung Lanckoroński gewidmet sein
sollte, tatsächlich erschienen ist, ist unklar.
77 Im Nachlass von Frau Walburg Rusch (Privatarchiv Kristin Matschiner, Wien) befinden
sich noch zwei der bunten Bilderbriefe Lilly Steiners.
78 Die mittlere der drei Conrat-Schwestern, Lili, hatte ihren Vetter Ludwig „Lutz“ Fraenkel
in Breslau geheiratet. Fraenkel war Inhaber eines Lehrstuhls für Gynäkologie und Geburts-
hilfe der Universität Breslau. Später erinnerte sich Ivo Kahmann, Tochter von ETCs ältes-
ter Schwester Ilse : „Ich habe gefragt, wer von unseren Bekannten denn Juden seien, denn
damals sah man schon viele NS-Plakate bei den Wahlen, die sich gegen Juden richteten
[…]. Meine kluge Mutter, die viele Juden kannte, nannte mir aber Onkel Lutz Fraenkel. Ich
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien