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Tagebuch 1925
Alles Leid
–
Doch darfst du nie
Ein Wort der Liebe
Zu mir sagen.
–
–
Gestern abends im Akademietheater bei Mama Nicole. Ein von einer französ[ischen]
Firma sehr geschickt, warm, witzig gemachtes Stück, das die gute B[erta] Z[ucker-
kandl] ganz lächerlich übersetzt hat.12
31.I.1924 [sic ! 1925]
Tätige Woche, Vorträge für d. Volksbildungsamt und Kurse. Mittwoch Hans : Ist der
Expressionismus tot ? Ausgezeichnet. (Er wird es aufschreiben) Donnerstag mit Her-
tha in dem „Konzert“ von […]. Am Montag vorher bei der Krzjanowska, die ihren
Gatten (Atelier Rapaport) besuchte. Menschlich warm, gut, rein u. s. f. – aber wir
schauen einander nur lieb an, können uns nicht verständigen, da sie nur ein wenig
deutsch u. ich gar nicht russisch verstehe. Nette Ehrlichiade erzählt : es ist neblich,
kalt, er hält die behandschuhte Hand vor den Mund. Sie : „Nehmen sie doch lieber
ein Sacktuch.“ Er : „Ja gleich“ rührt sich nicht. Sie wiederholt die Aufforderung, er
sucht in den Taschen. Sie bietet ihm eines an. Er weist sie zurück. Geht weiter. Sie :
„Ja warum nehmen sie denn keines, haben sie denn keines.“ „Gewiß, ich habe 20
Sacktücher !“ „Ja, aber wo sind sie denn ?“ „Im Koffer“
…13
Vroni sagt auf meine offenen Haare : „Die Mama hat Muskeln an den Haaren !“ Es
stellte sich heraus, daß sie die Wellen meint
…
Vroni erzählt von einer wundervollen Schulstunde : der Herr Lehrer Kummer hat
ein Häschen in die Schule gebracht. In einer Pappschachtel ist es gesessen. Anderl :
„Mein Gott, das kenn ich, er bringt immer eines mit.“ Er sagt es ein wenig im Ton
des Gymnasiasten, der über derlei Dinge erhaben ist. Dann aber nach einiger Zeit :
„Das muß doch etwas sehr Schönes für den Herrn Lehrer Kummer sein, daß er so
ein Haserl mitbringen darf ; wenn die Kinder alle herumstehen und staunen darüber.“
Georg will noch bis etwa zum 20. oder länger noch in Berlin bleiben – ich habe ihm
heute durch die Bank vom Nirenstein 3,100.000 anweisen lassen. Er ist fleißig und
schreibt sogar liebe Briefe. Ich soll meine Gedichte schicken und Theaterstücke. Ich
tu’s aber nicht. Es hat ja keinen Sinn.
6.II.1925
Gestern abend bei dem Kunstgewerbemann Prof. Steinhof – sehr nette Frau, Röme-
rin, die Schwester ist mit d. jungen Pirandello verheiratet. Es war eine französ[ische]
Musikerin da, eine Nicht[e] Herriots, bißchen snobbistisch, aber eigentlich ganz
amüsant. Sie spricht ein Französisch, so schnell und undeutlich, untermischt mit
Slangausdrücken – ich hab sie kaum verstanden. Ich war den ganzen Abend über-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien