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Tagebuch 1925
Tolmezzo 21.IX.1925
Am 19. noch die Ausstellung „Das Gesicht der Zeit“ eröffnet. Sehr lehrreich, erstens
die Gegenüberstellung nach den Stoffen (Köpfe, Halbakte, Akte, Erotik, Kind, Fami-
lie, soziales Elend etc.) zusammengestellten Materialien der heutigen u. der vergan-
genen Generation ; zweitens wie einheitlich d. heutige Generation gleich wirkt, wenn
man sie so vor Augen führt.41
Am 20. ganz in der Früh bei Nebel weggefahren, angezogen fürs Gebirge u. noch
schwankend, wohin eigentlich. Nach Wiener Neustadt zerriß der Nebel ins zarteste
Blau, das uns über dem Semmering durch die Steiermark u. Kärnten erfreute. Im
Wörthersee wurde noch gebadet. Sonst lagen die sonntäglichen Orte faul u. gedan-
kenlos da. Mit uns im Coupé ein kathol[ischer] Gesellenverein, der mit dem geistli-
chen Oberhaupt u. einer Fahne nach Rom zur Einweihung eines neuen Hauses reiste.
Die Burschen ein wenig kretinisiert, aber als Reisegenossen außerordentlich sym-
pathisch mit ihrem prinzipiellen Rauchverbot u. ihrer mangelnden Gesangesfreude.
Zwischen den beiden Übeln (Christlichsozialen u. Deutschnationalen) sind mir diese
doch noch tausendmal lieber. In ihrer Gesellschaft reiste auch eine sehr alte Kran-
kenschwester, die bei jeder Station ihre Brille aus dem Futteral holte und (wie die
ausflügelnden Volksschüler es tun) den Namen d. Station aufschrieb, dann noch nach
einer Uhr im Futteral sah und die Stunde dazuschrieb. Da sie aber zu ihrer eigenen
Uhr kein rechtes Vertrauen hatte, fragte sie immer noch den Hans zur Kontrolle. Aus
den Gesprächen, die sie mit anderen führte, ergab sich die vollkommene Gleichgül-
tigkeit gegen d. Tod ; er ist für sie der erwartete Verlauf dieser oder jener Krankheit.
Eine Folgerung auf die man sich von Anfang an einrichtet – wenn sie ausbleiben
würde, wäre ihr das eine offene Klammer
…
In Tarvis nahmen wir die Karten nach Tolmezzo. Leider zogen sich aber Wolken
zusammen, bei Pontebba nieselte es schon und wenn es auch in Stazione per la Car-
nia (wo wir umsteigen mußten) aufhörte, so war doch das schöne Wetter von Grund
aus ruiniert. In der kleinen Eisenbahn nach Tolmezzo merkten wir das Tagesdatum
(Venti Settembre) an einem patriotischen Rausch, der viel Aufsehen u. freundliche
Beurteilung erregte. Abendspaziergang durch die Stadt ; Erwägungen, wo die Berge
sein könnten
– Aber von diesen war auch heute Morgen wenig zu sehen, es schüttete
stundenlang u. wir beschlossen nach Udine zu reisen.42
Udine
Die Fahrt war wieder einzig schön. Bis Stazione per la Carnia heute bei Tag ; vor
allem das letzte Stück, wo d. Oberlauf des Tagliamento sich mit d. Donje vereinigt u.
die Donje ihren geraden Durchbruch durch d. Berge (mit dem neuen Namen Tagli-
amento) fortsetzt. Die Landschaft ähnlich wie am Tagliamento zwischen Venzone u.
Ospedaletto – nur viel näher von dem Ausgangspunkt, was für den Maler, der es ma-
len will, gewiß angenehmer ist. Hier in Udine, wo Hans d. Okkupation 1917–18 mit-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien