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Tagebuch 1926
alte Dame hat einen Hexenschuß bekommen. Wir warten lange auf die Paßbehörde,
auf der Mole draußen sitzt ein „negroider“ Typ, hat eine helle blaue Mütze und einen
dunklen blauen Rock, veilchenfarbene Socken und rote Lederschuhe, die er eifrig
mit einem Stück Papier zum Glänzen bringt. Wie wir endlich in die Stadt dürfen
schauen wir die Auslagen an, naive Freude des Seefahrers, der nach langer Reise an
Land geht. Wir suchen die Plätze auf, die wir vor 1½ Jahren bei unserer Herbstreise
durch den Midi kennen gelernt haben, essen in dem selben Lokal wie damals, das nur
dem entwerteten Franken mit ein auf 9 Franken hinaufgesetzten Menu rechnung-
trägt. Dann per Elektr[ische] hinaus in die Corniche, ein Rundgang durchs Antiken-
museum, ein Sonntag unter den Pinien des Trabrennplatzes, ein Sonntag hier im
Park Borély, in dem ich hier schreibe.5
21.IV.
Wir mußten am Abend aufs Schiff zurück, uns wärmer kleiden. In der Kajüte saßen
der Kapitän etc. mit der alten Dame beim Speisen und die alte Dame eilte sich sehr,
weil sie nachher mit dem Koch in die Stadt wollte, eine Rundfahrt machen u. alles
von ihm erklärt bekommen. Der Koch hatte ja zu einer anderen Stunde keine Zeit.
Draußen aber war es schon finster u. da schlugen wir ihr vor, sich doch lieber am
nächsten Morgen uns anzuschließen. Nachher gingen wir in den „Alcazar“ und sahen
die blödeste aller Revuen und blieben nicht bis zum Ende. Dachten uns aber dazu
eine viel lustigere aus von dem Koch u. der alten Dame u. allen Vergnügungslokalen
der Welt. Fast wäre die Rolle für die Werbezirk umzuarbeiten – denn die alte Dame
hatte sich auch inzwischen aus ihrer arischen Erscheinung in eine Schwester des Fe-
lix Dörmann verwandelt
…6
Wir schliefen herrlich, die heilige Ruhe auf dem Schiff. Am nächsten Tag dann es-
kortierten wir die alte Dame in die Stadt und kamen schließlich auch in das Museum,
sahen uns die Pugets an, die wir schon kannten, eine Bronze (Ratapoil) von Daumier,
dann die Bilder oben, die wir noch nicht kannten, weil dieser Teil vor 1½ Jahren
wegen einer Monticelliausstellung geschlossen war. (Guter riesengroßer Castiglioni,
gute Franzosen Mitte des 18., ödester Courbet (Hirsch). Hans kaufte um 12 fr einen
Katalog mit 162 Abb. (es lebe die Inflation) der 12 kl wog, eine Reisemütze, […]. Wir
aßen in d. Stadt, kauften Schinken für den Abend ein u. gingen um 12 aufs Schiff,
das gegen eins von Marseille abfuhr. Wir blieben an Deck u. sahen noch lange Notre
Dame de la Garde, die Krone der Stadt hinter uns u. sahen den Himmel und das
Meer das vom Mistral zum Scirocco Farbe, Licht u. Dichte wechselte. Wir mußten
bis zum Abend die Küste entlang fahren, da der Wind zu stark war und der Kapitän
Kohle sparen wollte (auch war er schonungsvoll aufgelegt, da seine Gattin seekrank
war). Als es finster wurde, gingen wir schlafen und erwachten erst im Angesicht der
spanischen Küste, die hügelig, mit weißen Spielereidörfern besät, sich Nord-Süd in
unserer Fahrtrichtung hinzieht. Kleine weiße Segel tanzen auf den Wellen. Es ist
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien