Seite - 396 - in Erica Tietze-Conrat - Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Bild der Seite - 396 -
Text der Seite - 396 -
396
Tagebuch 1926
es wird in Anbetracht der Bänke in der 3. Klasse eine harte Arbeit sein. Wenn ich
hier in Barcelona sterbe, muß Hans die 10.000 Klm allein abreisen, rundumadum,
rundumadum ; er wird dann oft voll Neid an mein ruhiges Grab am Fuß des Mont-
juic denken und mein Loos segnen
…10
Nach Tisch Siesta – die der Baedeker allerdings nur für die heißen Tage zubil-
ligt. Als wir auf den Tibidabo aufbrechen wollten, tröpfelte es mächtig. Da gingen
wir in den Dom, um dort die Gegend ein wenig zu besehen, bevor wir morgen den
vorgeschriebenen Rundgang machen. Beim Hineintreten war es finster wie in einer
Kiste. Ein Kind wurde getauft, die Frauen mit schwarzen Schleiern, kleine Mädchen
in große weiße gehüllt. Im Kreuzgang beim Dom blieb ich allein u. zeichnete. Die
Architektur hat mich dazu gereizt, aber schließlich ging ich auf die Gänse über, die
dort eine Art Inventar sind wie die Wölfe am Kapitol
…11
Hans holte mich dann am Abend dort ab und wir schlenderten heim ; im Palacio
de la diputación mischten wir uns unter die Leute und kamen über die schöne Stiege
zu der offenen Sala d’audienza, wo man für Morgen – Fest des hl. Georg spanischen
Erzpatrones
– den Blumenmarkt herrichtet
…12
Die erste von zuhause nachgeschickte Post brachte nur Unannehmlichkeiten –
aber den Kindern geht es gut
…
23.IV.
Fest des hl. Georg darum alle Museen zu, der Domschatz zu. Dafür reichlich ver-
söhnt durch die anderen Eindrücke. Erst in der Früh (nirgends schläft man tiefer
u. erquickender als in Barcelona !) in der Kirche S[an] Pablo in Campo, goldgelbes
Mauerwerk, klare kräftige Form, schlicht und selbstverständlich. Das muß so sein –
roma nische Kunst. Vielleicht die älteste christliche Anlage, außerhalb der Stadt – in
Campo ! – man spürt die ersten Fußstapfen der Christianisierung ; hier fängt Ge-
schichte an
…13
Ein kleiner Bub in gestreifter Schürze führt uns in die Kirche, öffnet uns die Tür
in den Kreuzgang, begleitet jeden unserer Schritte, jeden Seufzer des Staunens über
diesen farbig freudigen Eindruck, die goldgelben Säulchen, die schwarze Holzdecke,
den Boden mit den eingesetzten grünen Fliesen, den Garten in der Mitte, wo die
duftigen Asperaggi wie ein Springbrunnen sprudeln und sinken. Er begleitet seine
Opfer die ihm verfallen sind mit dies oder viente centesimos
…14
Im Kreuzgang steht ein dicker Preti und liest die Zeitung, während durch die of-
fene Kirchentür der liebe Gott sich mit Geklingel gerade offenbart. Der kleine Bub
stellt sich neben den Preti und liest mit ihm die Zeitung. Er hat uns vergessen u. er-
innert sich auch nicht wieder, als wir uns an der Tür bemerkbar machen, als wir ihm
winken
–. Er liest die Zeitung
…
Im Dom war es heut am Morgen ein wenig heller, so daß man doch – wenigstens
im Westen, wo der moderne Kuppelbau Licht hereinholt, den Umriß sogleich erken-
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien