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Tagebuch 1926
Suchen einer Schiffahrtsgesellschaft in Valencia und dann auf der Eisenbahn ver-
bracht. Die Landschaft war aufregend : Wüste, Felsenschluchten u. Wüste, ohne eine
Pflanze oder nur das Spartgras (aus dem sie die lustigsten Körbe machen) spärlich
darauf – und denn die üppigste Huerta mit Fruchtbäumen u. Palmen Dickicht, daß
man kaum die rote Erde durchsieht. Der Sonnenuntergang war märchenhaft, ein
schwefelgelbes Licht zwischen einer grauen Wolke u. der ebenso grauen Sierra, beide
Streifen gleich gezackt. Es war Weltuntergang oder noch eher das Unbewohnte, das
noch wartet. Der Segen des Humus der ausgeblieben ist
…
Ich hab im Zug gezeichnet. Unter anderem auch eine alte Frau, die auf einem
Aug erblindet war ; die wunderbar gehalten hat. Vielleicht eine Stunde ohne sich zu
rühren. Das sehende Aug hat nach innen geschaut. Ich hab das andre Aug anschauen
können u. es hat nichts von mir gewußt. Während ich sie zeichnete, war mir’s wie in
der tiefsten heiligsten Stille. „Wer wird früher sterben“, fragte ich mich – „du oder
ich ?“ Aber sie sah schon aus wie tot. Ich erschrak, als sie das schwarze Tuch herunter
nahm und ein ganz kleiner runder Affenkopf mit spärlich schwarzen Haaren sich ans
Licht schämte
…25
Und dann die Ankunft in Murcia, von dem d. Baedeker sagt, daß dort das kultur-
niedrigste Volk von Spanien sei, auf dem Bahnhof ein Hexensabbath der Kutscher
und Träger. Einer tanzte um uns wie ein Kreisel zu Beginn. Wir flohen zufuß in die
Stadt, die wie ein elendes Fischerdorf sich präsentierte. Im Handumdrehen ist man
auf einem Platz, auf dem zwanzig vornehme Autos stehen. Eine Brücke mit rau-
schendem Fluß. Das Hôtel steht erst seit 2 Jahren (Regina), der Wirt empfing uns
mit einer köstlichen Rede. Er zeigte seine Herrlichkeiten. Die Aussicht (es war drau-
ßen finster), eine Pflanze im Topf „Wie zart sie ist !“
– […] das Water Closet
– in dem
das Wasser fehlte ! Die Kellner kamen in Fräcken, 9 Gänge gab es zum Nachtmahl.
Aber in der Nacht ein zu heißes Bett u. Moschitos. Wir hatten noch am Abend die
Stadt besichtigt, die barocke Fassade der Kathedrale mit der elektrischen Birne auf
dem Ziffernblatt und die Hauptstraße, die noch am ehesten wie einst der Rio Terrá
in Venedig aussieht, mit den ziehenden Leuten, den Promenierenden zwischen an
die Mauer gerückten Strohstühlen der Zuschauenden. Wenn es sehr heiß ist, so sind
die Plachen ganz oben an den Häusern über die ganze Straße gezogen. Für den Wa-
genverkehr ist sie immer abgesperrt
… Bei Tag sah die Stadt nicht viel weniger uneu-
ropäisch aus als bei Nacht. Der aufstrebende Ehrgeiz wechselt gut mit grenzenloser
Primitivität. 8 Stock hohe neue Häuser mit gassenweit niedrigen Kaleschen, hinter
deren Fenster – oder Balkongittern die Kinder wie die Affen klemmen. Es hat uns
Freude gemacht Wappen u. Inschrifttafel unseres Salzburger Erzbischofs M. Lang an
dem Turm der Kathedrale wiederzufinden. Interessant sind nur die großen Prozessi-
onsstatuen (28 Männer tragen einen solchen Aufbau), die die Szenen der Passion in
bunten Figuren darstellen (Zarcillo) ; nur der Christus u. die Muttergottes sind dabei
in wirklichen Kleidern – für diese hat der Künstler, weil er nur Kopf, Hände u. Füße
Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Band I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
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- Titel
- Erica Tietze-Conrat
- Untertitel
- Tagebücher
- Band
- I: Der Wiener Vasari (1923–1926)
- Herausgeber
- Alexandra Caruso
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2015
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 458
- Kategorie
- Biographien