Seite - 32 - in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
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zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.
Nun wollen wir einige Pflichten herzählen nach der gewöhnlichen
Einteilung derselben in Pflichten gegen uns selbst und gegen andere
Menschen, in vollkommene und unvollkommene Pflichten.
1) Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit
angewachsen ist, einen Überdruss am Leben empfindet, ist noch so weit im
Besitze seiner Vernunft, dass er sich selbst fragen kann, ob es auch nicht etwa
der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen. Nun
versucht er: ob die Maxime seiner Handlung wohl ein allgemeines
Naturgesetz werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache es mir aus
Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel
droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen. Es frägt sich nur
noch, ob dieses Prinzip der Selbstliebe ein allgemeines Naturgesetz werden
könne. Da sieht man aber bald, dass eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch
dieselbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des Lebens
anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also
nicht als Natur bestehen würde, mithin jene Maxime unmöglich als
allgemeines Naturgesetz stattfinden könne und folglich dem obersten Prinzip
aller Pflicht gänzlich widerstreite.
2) Ein anderer sieht sich durch Not gedrungen, Geld zu borgen. Er weiß
wohl, dass er nicht wird bezahlen können, sieht aber auch, dass ihm nichts
geliehen werden wird, wenn er nicht festiglicht verspricht, es zu einer
bestimmten Zeit zu bezahlen. Er hat Lust, ein solches Versprechen zu tun;
noch aber hat er so viel Gewissen, sich zu fragen: ist es nicht unerlaubt und
pflichtwidrig, sich auf solche Art aus Not zu helfen? Gesetzt, er beschlösse es
doch, so würde seine Maxime der Handlung so lauten: wenn ich mich in
Geldnot zu sein glaube, so will ich Geld borgen und versprechen es zu
bezahlen, ob ich gleich weiß, es werde niemals geschehen. Nun ist dieses
Prinzip der Selbstliebe oder der eigenen Zuträglichkeit mit meinem ganzen
künftigen Wohlbefinden vielleicht wohl zu vereinigen, allein jetzt ist die
Frage: ob es recht sei. Ich verwandle also die Zumutung der Selbstliebe in ein
allgemeines Gesetz und richte die Frage so ein: wie es dann stehen würde,
wenn meine Maxime ein allgemeines Gesetz würde. Da sehe ich nun
sogleich, dass sie niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich
selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen
müsse. Denn die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass jeder, nachdem er in Not
zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht
zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag,
selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, dass ihm was
versprochen sei, sondern über alle solche Äußerung als eitles Vorgeben lachen
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Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Titel
- Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
- Autor
- Immanuel Kant
- Datum
- 1785
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 70
- Schlagwörter
- Philosophie, Vernunft, Aufklärung, Ethik, Kritik
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorrede 4
- Erster Abschnitt 9
- Zweiter Abschnitt 20
- Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten 20
- Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit 48
- Die Heteronomie des Willens als der Quell aller unechten Prinzipien der Sittlichkeit 49
- Einteilung aller möglichen Prinzipien der Sittlichkeit aus dem angenommenen Grundbegriffe der Heteronomie 50
- Dritter Abschnitt 54
- Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft. Der Begriff der Freiheit ist der Schlüssel zur Erklärung der Autonomie des Willens 54
- Freiheit muss als Eigenschaft des Willens aller vernünftigen Wesen vorausgesetzt werden 56
- Von dem Interesse, welches den Ideen der Sittlichkeit anhängt 57
- Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 61
- Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie 63
- Schlussanmerkung 70