Seite - 55 - in „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“ - Tagebücher 1839–1858, Band I
Bild der Seite - 55 -
Text der Seite - 55 -
553.
November 1839
österrreich doch noch beinahe ein paradiesisches zu nennen, denn bei uns
herrscht noch der nimbus der Aristokratie zum theile, und dieser veredelt
uns selbst in etwas, obwol er vielleicht unseren materiellen verhältnissen,
d.i. der erhaltung unseres vermögens, nachtheilig ist, weil es uns zwingt,
weniger kleinlich, prosaisch und terre-a-terre zu sein, als der Adel es hier
zu lande ist, wo er so wie ein kaufmann oder Bauer nur immer an gulden,
kreuzer und an die elendesten kleinen Anstellungen denkt.
hier sah ich das haus, wo Jean Paul, in seinem Privatleben ein geizhals
und trunkenbold, lebte und dichtete.
[Bayreuth] 3. november
gestern zeigte mir onkel ferdinand seine Petrefacten und fossiliensamm-
lung, welche er seit seiner Aufenthaltszeit in Bayreuth angelegt hat, und
welches einen mehr als europäischen ruf genießt, indem es ein bisher noch
ganz unbekannter genus primaerer (also noch weit älter als antediluviani-
scher) thiere enthält, die hier in der nähe gefunden werden, nämlich das
genus der saurier, einer Art von reptilien aus der secundären und terti-
ären Periode (die letzte uns bekannte Sündfluth gehört in die 4. geologische
Periode), welche wieder in viele species zerfallen als nothosaurus, ich-
thyosaurus, capitosaurus etc. etc.: eine und zwar die schönste species der
nothosauri ist von den gelehrten n. Andriani genannt worden, und über-
haupt hat ihn dieses sein steckenpferd, welches er seit mehreren Jahren
mit leidenschaft und, sowie ich darüber urtheilen kann, mit gründlichem
erfolge betreibt, mit den ersten geologen, mayer in frankfurt a/m, Wägler
in Würzburg,1 humboldt, graf sternberg etc. in Berührung gebracht. mich
interessirten diese trümmer einer längstvergangenen nur durch conjec-
turen erkennbaren Vorzeit unendlich, obwol mehr aus dem philosofischen
standpunkte als schlüssel zur geschichte der entstehung unseres erdbal-
les und höher hinauf als stufen zur erkenntniß oder zum läugnen gottes
und zu allen diesen kolossalen corollarien, welche dieser grundwahrheit
anhängen.
Wir sprachen dann sehr lange über Alles dieses, und mein onkel über-
raschte und imponirte mir durch seine tiefen und zugleich erhabenen An-
sichten, nur schien er mir in denselben etwas zu viel Poesie und mystik zu
haben, er sprach mir viel von den philosofischen Zahlenverhältnissen, von
der einheit und den gegensätzen, welche sich durch alle erscheinungen
in der Welt hindurchziehen, und wobei eins die gottheit, 2 die substanz
oder das weibliche element, 3 der geist oder das männliche element und 4
1 ein geologe oder Paläontologe Wägler oder ähnlich in Würzburg konnte nicht eruiert wer-
den.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien