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62 Tagebücher
hier habe ich hans kolowrat, meinen alten, mir immer unendlich werth
gebliebenen freund, und franz st. Julien gefunden. letzteren habe ich
schon seit Jahren nicht gesehen. sonst habe ich noch keine Besuche ge-
macht, denn das Wetter ist seit 3 tagen scheußlich und macht mich ganz
kleinmüthig. gabriele ist noch in leutomischl und hat noch immer keine
einberufung erhalten, doch aber wird sie in diesen tagen hieher kommen.
Was mich wundert und kränkt, ist, daß ich noch immer keine Antwort
von meiner guten unvergeßlichen lottum habe, sollte sie mich schon ver-
gessen haben? das würde mich sehr schmerzen, ich kann es aber nicht
glauben und will es noch einmal versuchen, ihr zu schreiben.
[Wien] 29. november
meine irr- und Pilgerfahrten waren noch nicht zu ende. gabriele schrieb
letzhin, daß sie nunmehr nach Wien zu kommen gedenke, um hier ihre ein-
berufung zu erwarten und indessen die nothwendigen curialien, visitten
und empletten zu machen, und bath, man möge ihr bis Brünn eine kam-
merjungfer oder so etwas, da sie von leutomischl keine mitnimmt, entge-
gen schicken, um sie hieher zu chaperonniren, da sich nun keine derglei-
chen anständige Person sogleich vorfand, so wurde beschlossen, daß ich sie
dort abholen sollte. ich fuhr demnach bon gré malgré vorgestern früh auf
der eisenbahn nach Brünn, wo ich gegen 2 uhr ankam. Wegen des Jahr-
marktes war es eben schwer, Zimmer zu bekommen, und da ich incognito
reiste und sogar unter dem namen graf saint Julien meinen Passirschein
genommen hatte, damit nicht mittrowsky hier oder ugarte in Brünn von
mir hören sollten, so konnte ich auch keine Besuche machen, so gerne ich
auch die schell’s, louise chotek etc. gesehen hätte, besonders da ich mich
noch dazu bei dem schlechten Wetter grenzenlos ennuyrte, ich saß daher
meistens zu hause.
gegen 7 uhr kam gabriele von morawetz, ich hatte eine unendliche
freude, sie wieder zu sehen, wir hatten uns soviel zu erzählen, daß uns der
Abend schnell verstrich, ebenso auch die rückreise nach Wien wieder auf
der eisenbahn am folgenden tage, d.i. gestern, wo wir noch dazu glücklicher
Weise ganz allein in einem Wagen waren. vor 2 uhr waren wir hier und stie-
gen Beide bei tante lotti ab, ich bewohne und zwar für die ganze Zeit mei-
nes hierseins die beiden Zimmer des verstorbenen onkels hadik. ich habe
letzhin den schwager meines onkels ferdinand, den bairischen gesandten
am hiesigen hofe lerchenfeld besucht, er nahm mich mit der größten herz-
lichkeit und freude auf, konnte mich aber seiner frau nicht vorstellen, weil
sie eben ausgegangen war, dieses haus werde ich wahrscheinlich cultiviren,
sowol pour l’agrément als vielleicht aus nebenabsichten, d.h. um vielleicht
dadurch meinen diplomatischen Zwecken näher zu kommen.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien