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Dezember 1839
zeugt, daß ich hiedurch viel gutes stiften und vielleicht einen allmählichen
übergang zu anderen ideen, die mehr der Zeit gemäß sind, ohne ihr jedoch
ganz zu huldigen, vorbereiten könnte. Aber fidel Palfy, welcher als gewe-
sener kanzler von ungarn das hiesige terrain in den höchsten regionen
genau kennen muß, und welchem ich davon sprach, war der meinung, es
würde unmöglich sein, diese unternehmung zwischen den vielen verschie-
denen tendenzen und gesinnungen unserer großen machthaber durchzu-
führen, ohne an einem oder dem Anderen zu scheitern und mir nebstdem
noch eine höchst unangenehme sociale stellung hier in Wien zu bereiten.
[Wien] 26. dezember
heute nach dem frühstück ist gabrielle von hier abgereist, sie geht über
görz, wo sie bei desimons sich 3 tage aufzuhalten gedenkt, nach venedig,
wo sie am 4. Jänner eintreffen wird. mir hat diese trennung unendlich leid
gethan, denn abgesehen davon, daß es meine schwester ist, habe ich kaum
für irgend ein Weib auf erden soviel Achtung und Zutrauen als zu ihr, denn
sie besitzt nicht nur einen überlegenen und äußerst gebildeten verstand und
einen festen, Achtung gebietenden charakter, sondern sowol der eine als der
andere sind nebstdem dem meinigen so homogen und haben ganz dieselbe
richtung wie bei mir. einige wollten hier, ich sollte mit ihr nach venedig ge-
hen, mich dort dem erzherzog vorstellen und dann gleich auf meinen Posten
nach istrien abgehen. Aber erstens habe ich durchaus keine eile, nach Pisino
zu kommen, besonders jetzt, da ich durch mein urlaubsgesuch legitimirt bin,
und dann glaube ich nicht, daß mir dieser Besuch in venedig etwas genützt
hätte, indem ohnehin jetzt noch der moment nicht da ist, um eine Zutheilung
zur kanzlei des erzherzogs zu erwirken, im gegentheile hätte meine Anwe-
senheit in venedig die herren an meinen langen urlaub erinnert, von dem
sie so vielleicht nichts wissen oder doch daran vergessen.
übrigens habe ich es mit gabriele ausgemacht, daß sie in einigen mo-
naten, wenn sie das terrain erforscht haben wird, die nöthigen versuche
machen wird, um mich zur vicekönglichen kanzlei nach italien zu bringen.
[Wien] 30. dezember
Wien wird mir immer angenehmer, je mehr ich hier bin und die societé
wieder kennen lerne, und ich sehe voraus, daß mir diese Abreise beson-
ders mit der Perspektive von Pisino sehr schwer fallen wird, doch aber
komme ich von meinem früheren urtheile nicht zurück, mit nur sehr we-
nig Ausnahmen (und diese sind meistens Fremde) finde ich die Elemente
einer geistigen, wirklich großstädtischen, cosmopolitischen, aufregenden
unterhaltung blutschlecht bestellt und glaube nicht, daß ein Wiener sa-
lon sich von dem einer kleinen Provinzialstadt durch viel Anderes unter-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien