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76 Tagebücher
der hervor, und ich sehe, daß ich noch durchaus mich nicht an den gedanken
gewöhnt habe, noch mich daran gewöhnen kann.
gehen werde ich aber deßwegen dennoch müssen, wenn ich auch den Au-
genblick meiner Abreise so sehr als möglich hinausschiebe, weil ich nichts
Anderes thun kann.
[Wien] 23. Jänner
mein tagebuch stockt jetzt immer mehr, erstens weil ich nicht weiß, was
ich hineinschreiben soll, denn das beständige einerlei von visiten, salons
und Bällen biethet nichts merkwürdiges und keinen stoff zu besonderen Be-
trachtungen dar, und dann, weil ich so zu sagen mich vor mir selber scheue
und schäme und mir meine ergebung in mein schicksal, d.h. meinen ent-
schluß, wieder in mein voriges Joch zurückzukehren, vorwerfe nach all’ den
entgegengesetzten vorsätzen und Betheuerungen. gott mag es mir ver-
zeihen, ich aber werde deßwegen doch noch nicht in dem glauben an mich
wankend, die umstände, meine umgebungen etc. haben mich besiegt, aber
nur für den moment, und mein größeres, besseres ich ist nicht verstummt,
das fühle ich an den Zweifeln und regungen, womit es mein gemüth zer-
reißt. ich freue mich darüber im interesse des edleren erhabenen menschen
in mir, obwol meine ruhe dabei zum opfer fällt. überhaupt habe ich mein
ganzes leben einen fortwährenden kampf auszustehen gehabt zwischen den
zwei menschen in meiner Brust, welche ich ganz distinctement von einander
in mir fühle, diesem kampfe habe ich zu verdanken, daß ich nie oder sehr
selten (bloß des sommers 1836 erinnere ich mich als eines solchen momen-
tes) eine Periode völliger gemüthsruhe genossen habe, und doch liebe ich
ihn, weil er mir Bürge ist, daß in mir etwas höheres lebt, und daß ich daher
wills gott zu etwas größerem bestimmt bin als die foule um mich herum,
dieß ist der kampf zwischen dem alltäglichen menschen in mir und demjeni-
gen, welcher höheres und edleres im Auge hat.
„sagen sie ihm, daß er für die träume seiner Jugend
soll Achtung haben, wenn er mann sein wird.
Nicht öffnen soll dem tödtenden Insekte
Gerühmter besserer Vernunft das Herz
der zarten Götterblume, daß er nicht
Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit
Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.“
o großer schiller!1
1 Don Carlos, 4. Akt, 21. Auftritt: Marquis an Königin; richtig in der 2. Zeile „soll Achtung
tragen“.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien