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Jänner 1840
daß es mir übrigens auch aus anderen gründen schwer fällt, mitten im
fasching Wien zu verlassen, um nach Pisino zu gehen, noch dazu in die-
ser Jahreszeit, wo ein unangenehmer Aufenthalt immer noch viel unange-
nehmer wird, ist natürlich. ich habe daher, weil der gouverneur ohnehin
es gerne hat, mit Briefen und Bitten heimgesucht zu werden (was ihn von
mir am meisten ärgerte, war nicht, daß ich so lange ausblieb, sondern daß
ich nichts von mir hören ließ), letzthin an ihn geschrieben und ihm meine
Abreise auf den 22. und meine Ankunft in triest auf den 27. angekündigt,
statt dessen aber werde ich erst am 31. oder 1. kommenden monats Wien
verlassen, eine gute excuse werde ich dann schon finden. ohnehin kommen
bei meiner Abwesenheit von 9 monaten ein paar tage nicht in Betracht.
da ein versuch nichts schadet, so will ich in triest den versuch machen,
ob mich der gouverneur nicht vielleicht am gubernium zur dienstleistung
zutheilen wollte, was er aber wahrscheinlich, wenn auch nur um mich ein
bischen zu strafen, nicht thun wird, in Pisino aber, wenn ich denn schon
dorthin muß, will ich mich ganz in Akten begraben und dann nach 3–4 mo-
naten an mein weiteres schicksal denken. Aber in dieser hinsicht steht mein
entschluß fest, gelingt mir der Plan nicht, durch gabriele zum erzherzog
rainer zu kommen, so werde ich Alles aufbiethen, um hier zur hofkanzlei
zu kommen, denn eine übersetzung in ein anderes gouvernement wäre à
peu pris gehüpft wie gesprungen, und mein hauptwunsch ist gegenwärtig,
in eine angenehme existenz und eine größere stadt zu kommen, d.h. Wien,
mailand, mindestens venedig, weil ich nur dort hoffen kann, mich durch
eine reiche Parthie dahin zu versetzen, wo ich anzulangen strebe. Warum
müssen doch so kleinliche considerations sich in die edelsten, erhabensten
gedanken mischen und immer alle Begeisterung vergällen! Aber leider ist
die Welt, d.h. unsere verhältnisse, wie sie uns selbst gemacht haben, ein-
mal so, und wir können keinen schritt unternehmen, ohne lebhaft an sol-
che erbärmlichkeiten gemahnt zu werden.
[Wien] 30. Jänner
Am 2., d.i. sonntag früh, verlasse ich endlich Wien, um in meine verban-
nung zu gehen, ganz gewiß indessen ist dieses noch nicht, denn ich kann
mich noch immer nicht recht zur Abreise entschließen und jetzt weniger als
früher, da ich mir hier immer besser gefalle, so wie ich mehr in die hiesigen,
mir sonst so wohlbekannten verhältnisse und erinnerungen zurücktrete.
obwol ich es wiederhole, daß ich hier nicht für immer leben möchte, so
ist mir Wien oder eigentlich viele Wiener doch sehr angenehm und theuer
und doppelt so viel mit der Perspective von Pisino im hintergrunde. im
übrigen ist jetzt gerade ein sehr lugubrer moment über die Wiener so-
cieté gekommen, welche auf Alle störend und lähmend wirkt. unter der-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien