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Oktober 1840
was war zu thun? mit dem bald darauf von chur kommenden Wagen fuhr
ich denn geduldig nach rapperswyl zurück, wo ich nach 3 uhr ankam und
meine Sachen vorfand; ich raisonirte ein bischen auf der Post und ging dann
in das hotel du Paon am ufer des sees vor der stadt, wo man ganz gut ist bis
auf den exécrablen thee, wie ich schon mit großer Bekümmerniß erfahren
habe. ich dinirte auf einer terrasse im Angesicht des sees en public, von der
untergehenden sonne beschienen, und tröstete mich so über mein schicksal.
nach tisch ging ich über die endlose (1/2 stunde lange) ich glaube die länge-
ste Brücke der Welt, jenseits ist kanton schwytz.
diese engländer sind eine wahre landplage, überall fourmilliren sie,
auch hier; apropos de celà, erinnere ich mich, daß ich in Hospital1 morgens
nach warmem Wasser läutete und rief, und als es nicht kam, im nachtco-
stume unter meine thüre trat, um einen kellner oder so etwas en passage
zu erwischen; auch sah ich wirklich, denn es war noch ziemlich dunkel, et-
was weißes auf der treppe stehen, was mir wie ein stubenmädchen vorkam,
und ich daher anrief; auf ein Mal hörte ich ein durchdringendes Geschrei:
„oh god, how shocking!“ und die effarouchirte weiße taube verschwindet
wie ein Blitz; ich mußte von ganzem Herzen lachen.
chur 3. oktober Abends
um 11 uhr vormittags verließ ich endlich meinen unfreiwilligen séjour und
fuhr mit dem eilwagen über uznach durch das äußerst liebliche und reit-
zende lintthal nach Wesen. gegen ende fährt man ziemlich lange längs des
Linthcanals, der den Zürcher mit dem Walenstädtersee verbindet; es gibt
da viel terrain zu beyden seiten desselben, welches erst in cultur gesetzt
wird und bisher, wie es scheint, Sumpfgegend war; dieß ist die sogenannte
linth-colonie. Auch steht das denkmal des 1799 hier gefallenen franzö-
sischen generals hotze an der straße2 so wie das des Zürcher Banquiers
linth-escher, der kanal, kolonie und dampfschifffahrt gründete. ich saß
hinten im coupé beneidenswerth, bis 2 dicke, gutmüthige schwaben dazu
kamen, die mich schon dadurch und dann noch durch ihre beständigen na-
iven Ausbrüche des erstaunens à tout propos impatientirten.
in Wesen embarquirten wir uns sogleich auf das dampfboot, die einzige
Art, um über den see zu kommen, mit Ausnahme eines fußsteigs auf der
Glarner Seite; das Schiff war miserabel in Hinsicht seines Comforts, es
blies ein rauher kalter Wind, und von Zeit zu Zeit verhüllten Wolken die
Spitzen der höchsten Berge; der See ist äußerst wild und sehr schön, er
erinnert stark an den luzerner see gegen fluelen zu, besonders auf der st.
1 richtig hospental.
2 frh. friedrich v. hotze war österreichischer, nicht französischer general.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Band I
- Titel
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Untertitel
- Tagebücher 1839–1858
- Band
- I
- Autor
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Herausgeber
- Franz Adlgasser
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 744
- Schlagwörter
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Kategorie
- Biographien